Papier griff, mit dem Ginny vor seiner Nase wedelte.

»Im Dorf. In Lower Stovey. Um ungefähr zwanzig Minuten vor zehn. Die Frau ist eine gewisse Mrs. Linda Jones. Sie und ihr Mann bewirtschaften die Greenjack Farm außerhalb von Lower Stovey. Sie haben eine dreizehnjährige Tochter, die sie jeden Morgen zur Schule fährt, und sie war auf dem Rückweg zur Farm. Unterwegs ist sie Hester an der Hauptstraße begegnet.« Ginny verdrehte die Augen.

»Sie sagt, es wäre ihr eben erst wieder eingefallen.« Pearce bekam das Blatt zu fassen und hielt es triumphierend.

»Ich fahre sofort raus und rede mit ihr!«

Die Greenjack Farm lag am Ende eines schmalen Fahrwegs, der von der Straße abzweigte, die von Lower Stovey bis zum Rand von Stovey Woods führte. Die Farm stand in einer Senke, eine Ansammlung von Gebäuden aus grauem Feldstein und Holz. Das Haupthaus war ein niedriger, schmuckloser Zweckbau. Es nahm drei Seiten eines Hofes ein, mit einem offenen Schuppen mit Wellblechdach zur einen und alten Ställen zur anderen Seite. Auf dem Hof war niemand zu sehen.

Pearce stieg aus dem Wagen. Über ihm krächzten Krähen, und in der Ferne hörte er den Motor eines Traktors, während er den Hof überquerte. Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Er klopfte an und rief

»Hallo?« durch den Spalt ins Innere.

»Jemand zu Hause?«

Schritte näherten sich, langsam und vorsichtig. Die Tür wurde knarrend weiter geöffnet, und Pearce blickte in die blassen blauen Augen eines alten Mannes in einer alten Jacke über einem grünen Pullover und einem Hemd. Sein Haar war dünn und weiß und seine Gesichtsfarbe rosig.

»Wer sind Sie?«, fragte er an Dave gewandt, nicht aggressiv, sondern mit nahezu kindlicher Neugier.

»Mein Name ist Inspector Pearce«, stellte Dave sich vor und hielt ihm seinen Dienstausweis hin. Der alte Mann beachtete ihn gar nicht, sondern starrte Pearce an, als würde er sich insgeheim über das Erscheinungsbild seines Besuchers amüsieren.

»Ich bin eigentlich gekommen, um mit Mrs. Linda Jones zu sprechen«, sagte Pearce ein wenig lauter. Er wusste nicht, ob der alte Bursche schwerhörig war – möglich war es.

»Linda ist meine Schwiegertochter«, sagte der Alte. Nachdem er Pearce diese Information hatte zukommen lassen, schien er der Meinung, es wäre genug und Pearces Neugier damit befriedigt.

»Also dann, Junge, auf Wiedersehen«, sagte er und machte Anstalten, die Tür zu schließen. Pearce schob rasch den Fuß zwischen Tür und Rahmen.

»Könnte ich bitte mit Mrs. Jones sprechen?« Nicht taub, sondern verkalkt, dachte er. Der alte Mann starrte nach unten auf Pearces Fuß und runzelte die Stirn.

»Sie haben den Fuß in meiner Tür«, stellte er fest.

»Ich weiß«, sagte Pearce frustriert.

»Ich möchte bitte mit Mrs. Jones sprechen.«

»Das haben Sie nicht gesagt.«

»Doch, habe ich. Hören Sie – ist sie zu Hause?« Glücklicherweise rief genau in diesem Augenblick eine fragende Frauenstimme:

»Was gibt es denn da draußen, Dad?« Die Tür wurde vollends geöffnet, und Pearce erblickte eine Frau in Jeans, kariertem Hemd und ärmelloser Jacke mit wettergegerbtem Gesicht. Das blonde, von grauen Strähnen durchsetzte Haar war auf dem Kopf zu einem Knoten hochgesteckt und wurde von langen Nadeln gehalten. Einzelne Strähnen hatten sich gelöst und hingen ihr ins Gesicht, das bar jeglichen Make-ups war. Trotzdem war sie eine attraktive Frau. Wahrscheinlich Anfang vierzig, schätzte Pearce.

»Mrs. Jones?«, erkundigte er sich mit neuer Hoffnung.

»Ich bin Inspector Pearce. Sie haben uns angerufen und gesagt …«

»Ich hatte nicht erwartet, dass Sie deswegen den ganzen Weg hier herauskommen würden!«, unterbrach sie ihn erstaunt.

»Ich muss wirklich dringend mit Ihnen sprechen, Mrs. Jones.« Sie schien unentschlossen.

»Ich weiß nicht … Ich habe der Frau, die den Anruf entgegengenommen hat, alles erzählt, was ich weiß. Ich habe Hester Millar an dem Morgen gesehen, an dem sie ermordet wurde. Eine schreckliche Geschichte ist das.«

»Er will mit dir reden, Linda«, sagte der alte Mann, der ein wenig langsamer zu begreifen schien.

»Ja, Dad. Geh nur wieder nach drinnen und setz dich. Ich mache gleich eine Tasse Tee.« Das Versprechen von Tee schien den gewünschten Erfolg zu zeitigen. Der Alte machte kehrt und schlurfte ins Haus zurück.

»Kommen Sie mit durch zur Küche«, sagte Linda Jones zu Pearce.

»Obwohl es wirklich nichts Neues gibt, das ich Ihnen erzählen könnte.« Kurze Zeit später saß Pearce mit einem Becher starken Tees und einem dicken Stück Kuchen am Küchentisch und fragte seine Gastgeberin:

»Kannten Sie Hester Millar gut?« Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, nicht besonders gut. Ich habe mich hin und wieder mit ihr unterhalten, und wir haben uns auf der Straße gegrüßt. Sie war immer freundlich. Ich wusste, dass sie bei Ruth Aston wohnte und dass sie und Ruth sich gemeinsam um die Kirche kümmerten. Es ist eine himmelschreiende Schande, dass wir keinen eigenen Vikar mehr haben! Ruths Vater war der letzte Vikar von Lower Stovey, wussten Sie das?« Sie fixierte Pearce mit einem inquisitorischen Blick.

»Ja, ich wusste es – weiß es. Sie klingen, als wären Sie eine Einheimische, Mrs. Jones.«

»Das ist richtig. Ich habe mein ganzes Leben in Lower Stovey verbracht.« Linda Jones verstummte sekundenlang, und als sie weiterredete, war die Bitterkeit aus ihrer Stimme verschwunden, die bei ihren letzten Worten durchgeschimmert hatte.

»Meine Eltern hatten die Church Farm, direkt neben dieser hier.«

»Ich verstehe. Kommen wir zu dem Morgen, an dem Miss Millar starb. Was haben Sie gerade gemacht, als Sie ihr begegnet sind?«

»Was ich an jedem Wochentag mache, außer in den Schulferien. Ich habe meine Tochter nach Bamford gefahren. Sie geht auf das Community College. Der Schulbus fährt nicht mehr nach Lower Stovey. Es gibt nicht genügend Kinder hier. Abends gibt es einen fahrplanmäßigen Bus, mit dem sie nach Hause kommen kann. Ich hole sie vorne an der Hauptstraße ab.«

»Aha«, sagte Pearce, während er versuchte, den unverlangten Überfluss an Informationen zu verdauen.

»Also waren Sie unterwegs nach Bamford, und es war vor neun Uhr morgens.«

»Nein, ich war auf dem Rückweg von Bamford, und es war etwa halb zehn oder ein wenig später. Nachdem ich Becky an der Schule abgesetzt hatte, ging ich noch in den Supermarkt. Sagen wir, es war wohl so gegen zwanzig vor zehn, bis ich wieder im Dorf war. Ja, das kommt hin. Ich war kurz vor zehn im Haus. Ich war ein wenig nervös, weil ich mich verspätet hatte, und Sie wissen ja, wie das ist, wenn man morgens nicht gleich richtig mit seiner Arbeit anfängt, läuft man den ganzen Tag nur noch hinterher. Jedenfalls, ich sah Hester, als ich durch das Dorf fuhr. Sie ging gerade an der Kirche vorbei. Ich hupte ihr und winkte, und sie winkte zurück. Wir haben nicht geredet.« Pearce beugte sich vor.

»Sie sagen, sie ist an der Kirche vorbeigegangen? Nicht hinein? Nicht auf den Kirchhof? Sind Sie sicher?« Sie war sicher.

»Aus welcher Richtung kam sie?«, fragte Pearce.

»Aus Richtung Church Lane, wo sie gewohnt hat, wie nicht anders zu erwarten. Ich meine, entweder sie oder Ruth schließen in den Sommermonaten morgens um diese Zeit die Kirche auf. Ich bin ihnen häufig begegnet. Entweder Hester oder Ruth.«

»Aber Miss Millar bog nicht auf den Kirchhof ein, um die Kirche auf zuschließen, wie sie oder Mrs. Aston es normalerweise taten?«

»Nein. Ich habe nicht darüber nachgedacht, aber Sie haben Recht. Sie bog nicht in den Kirchhof ein, sondern ging daran vorbei.« Linda verstummte und dachte angestrengt nach.

»Ja, ich bin absolut sicher. Sie kam aus der Church Lane und ging am Friedhofstor vorbei. Jetzt fällt es mir wieder ein. Es kam mir eigenartig vor, und ich fragte mich, wohin sie wollte.« Sie nahm den Deckel von der Teekanne und starrte hinein.

»Er könnte den einen oder anderen Tropfen heißen Wassers vertragen. Möchten Sie noch eine Tasse?«

»Nein danke!«, versicherte Pearce ihr hastig.

»Wie sah Miss Millar an jenem Morgen aus? Welchen Eindruck hatten Sie von ihr?«

»Wie sie aussah? Normal, würde ich sagen. Wie immer.«

»Nicht gestresst oder nervös?« Linda starrte ihn an.

»Nein. Nein, nicht, dass mir etwas aufgefallen wäre. Ich gestehe, dass ich nicht so genau hingesehen habe. Nachdem ich vorbeigefahren war, hab ich die Begegnung gleich wieder vergessen. Und als der Aufruf in der Zeitung stand, ist es mir plötzlich wieder eingefallen.«

»Und Sie sind absolut sicher, dass Sie Miss Millar an jenem Morgen gesehen haben, an dem sie starb? Es war kein anderer Tag? Sie sagten eben, es wäre nicht ungewöhnlich gewesen, dass Sie Ruth oder Hester begegneten.«

»Absolut sicher«, sagte Linda Jones entschieden.

»Es war nämlich an dem Tag, an dem es vorher eine Warnung wegen zusätzlichem Verkehr auf der Hauptstraße nach Bamford gegeben hatte, wegen einer Umleitung oder so, und ich habe versucht, Becky ein wenig zur Eile anzutreiben, bevor wir gefahren sind. Nur, dass es reine Zeitverschwendung war. Man kann Beck genauso wenig zur Eile antreiben wie meinen Schwiegervater.« Pearce schluckte das letzte Stück von seinem Kuchen hinunter, während er über das Gehörte nachdachte.

»Erinnern Sie sich noch, wie Miss Millar angezogen war?« Zeugen beharrten oftmals darauf, dass sie sich nicht irrten, was das Datum anging, aber um fair zu sein, Mrs. Jones erweckte einen zuverlässigen Eindruck. Die Information über den Verkehrsstau auf der Hauptstraße hatte ihrer Aussage zusätzliche Glaubhaftigkeit verliehen. Doch es konnte nicht schaden, sich zu überzeugen.

»Angezogen?« Linda Jones starrte Pearce überrascht an.

»Warum um alles in der Welt hätte ich auf ihre Garderobe achten sollen? Wir sind hier in Lower Stovey, nicht in der Stadt, wo die Leute ihre besten Sachen anziehen, bevor sie sich auf die Straße wagen. Wir laufen hier alle mehr oder weniger gleich angezogen herum, tagaus, tagein. Hester trug ihre graue Kordhose, glaube ich. Sie trug die Hose häufig. Aber ich könnte mich auch irren. Sie hatte eine Art Pullover an und hatte die Handtasche quer über die Brust geschlungen, um die Hände frei zu haben …« An diesem Punkt unterbrach sich Linda abrupt. Pearce spürte ein Kitzeln zwischen den Schulterblättern.

»Frei zu haben wofür?«, fragte er leise.

»Sie trug etwas bei sich«, sagte Linda und runzelte die Stirn.

»Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, was es gewesen ist. Irgendwas Kleines, würde ich sagen.« Aus dem Hof drang ein neues Geräusch, das Brüllen eines Motorrads. Linda blickte auf, ihre Miene erhellte sich, und sie errötete.

»Das ist wahrscheinlich Gordon!« Sie bemerkte Pearces Blick und fügte hastig hinzu:

»Das ist mein Sohn. Er ist zu Besuch gekommen!« Mist!, dachte Pearce. Gerade jetzt, wo sie anfangen wollte, mir etwas zu erzählen, das sich als möglicherweise interessant erweisen könnte. Gut, dass der Sohn nicht noch früher gekommen ist, sonst wäre ich nicht mal so weit vorgedrungen. Linda war aufgestanden. Die Küchentür flog auf, und ein stämmiger junger Mann trat ein. Das rote Haar war kurz geschnitten, und er hatte die rötliche Gesichtsfarbe, die man häufig in Kombination mit roten Haaren findet. Er war nicht sonderlich attraktiv mit seinem breiten Mund und der Stupsnase, doch sein Gesicht strahlte jugendliche Gesundheit aus. Er trug eine Lederjacke und hielt den Motorradhelm unter den Arm geklemmt. Als er Pearce bemerkte, legte er den Helm ab und nickte dem Fremden grüßend zu, bevor er seiner Mutter einen Kuss auf die Wange gab.

»Hallo Mum.« Sie streckte die Hand aus und legte sie ihm auf die Schulter.

»Dein Dad ist irgendwo auf dem Feld.« Pearce bemerkte den fröhlichen Ausdruck auf dem Gesicht des jungen Mannes.

»Ist er? Eigentlich bin ich gekommen, um dich zu besuchen. Ich wollte dir von nächstem Dienstag erzählen. Es ist alles fertig vorbereitet, mit Disco und allem.«

»Ich weiß überhaupt nicht, warum du so einen Krach veranstalten musst!«, sagte sie liebevoll und wandte sich zu Pearce.

»Gordon wird nächsten Dienstag einundzwanzig, und er macht eine große Party in Bamford, wo er wohnt. Ich weiß, dass die Jungen heute schon mit achtzehn wählen dürfen, aber sie feiern noch immer den einundzwanzigsten Geburtstag, nicht wahr?« Sie wandte sich wieder ihrem Sohn zu und plapperte munter weiter.

»Ich glaube nicht, dass es mir gelingt, deinen Dad zu überreden, mit dir in eine Disco zu gehen. Aber Becky und ich werden kommen. Becky freut sich riesig darauf.«

»Solange du da bist«, sagte Gordon Jones,

»kann ich auf Dad verzichten.« Pearce bemerkte den niedergeschlagenen Ausdruck, der für eine Sekunde das Gesicht seiner Mutter umwölkte, als der Junge sprach. Also kamen Vater und Sohn nicht miteinander zurecht, und der Junge wohnte in Bamford. Ein großer, kräftiger Bursche wie er – sie hätten ihn gut auf der Farm gebrauchen können. War das der Grund für die Missstimmung zwischen Vater und Sohn? Der junge Mann hatte sich geweigert, in die Fußstapfen von Vater und Großvater zu treten? Gordon Jones hatte sich zu Pearce umgewandt und blickte ihn fragend an.

»Inspector Pearce«, stellte sich Dave vor.

»Regional Serious Crimes Squad.«

»Ach, tatsächlich? Dann sind Sie hier, um den Mord in unserer Gemeinde zu untersuchen, richtig? Was machen Sie hier bei meiner Mutter?« In der Stimme des jungen Mannes schwang Ablehnung mit, doch daran war Pearce von anderen jungen Männern gewöhnt. Linda antwortete, bevor Pearce es konnte.

»Ich habe die Polizei angerufen, Gordon, um ihnen zu sagen, dass ich die arme Hester Millar an dem Tag gesehen habe, als sie starb, früh am Morgen. Ich kam gerade von der Schule und vom Einkaufen zurück. Mr. Pearce ist aus Bamford hergekommen, um sich mit mir zu unterhalten, doch ich konnte ihm nicht viel sagen.« An Pearce gewandt, fuhr sie fort:

»Ziemliche Zeitverschwendung, dass Sie extra den ganzen Weg hier herausgekommen sind.«

»Wir gehen immer sämtlichen Informationen nach«, erwiderte Pearce.

»Insbesondere bei einem so ernsten Verbrechen wie diesem.«

»Sie stecken also fest?«, erkundigte sich Gordon Jones unverschämt.

»Nein«, erwiderte Pearce gleichmütig.

»Noch nicht. Noch lange nicht.« Der junge Mann blickte verwirrt drein, und Pearce nutzte seinen momentanen Vorteil, um sich von Mrs. Jones zu verabschieden. Als er die Tür seines Wagens öffnete, kam ein Traktor ratternd und knatternd den Weg entlang und auf den Hof. Der Fahrer, ein wettergegerbter Mann mit dünner werdendem Haar und einem Gesicht, das aussah, als wäre es unablässig zu einer missmutigen Grimasse verzogen, kletterte vom Fahrersitz herab und begrüßte Pearce mit:

»Wer sind Sie? Ein Bulle?«

»Ja. Ich sehe aus wie einer, habe ich Recht?« Ein Schnauben war die Antwort.

»Was wollen Sie?«

»Sind Sie Mr. Jones?«, fragte Pearce.

»Selbstverständlich bin ich Mr. Jones, Herrgott noch mal!« Jones starrte missmutig an Pearce vorbei auf das Motorrad seines Sohnes.

»Wie ich sehe, sind Sie nicht der einzige Besucher. Was hat Sie zu uns geführt?«

»Ich habe mich nur kurz mit Ihrer Frau unterhalten bezüglich der Informationen, die sie besitzt.« Jones’ Unterkiefer sank herab.

»Was für Informationen?«, fragte er. Meine Güte! Sie hatte es ihm nicht erzählt. Pearce wurde klar, dass er es hier offensichtlich mit einer typischen, nicht funktionierenden Familie zu tun hatte. Doch selbst wenn dem so war, so glaubte er nicht, dass die Schuld bei Mrs. Jones lag.

»Es ging um eine Sichtung der ermordeten Frau, Miss Hester Millar, am Tag ihres Todes. Ihre Frau erinnerte sich, dass sie Miss Millar kurz nach halb zehn morgens im Dorf gesehen hat.«

»Und sie hat deswegen bei der Polizei angerufen?«, schnaubte Jones.

»So eine verdammte Zeitverschwendung!«

»Ganz im Gegenteil!«, sagte Pearce freundlich.

»Diese Information war extrem wertvoll für uns. Sie ist bisher die einzige Person, die sich gemeldet und gesagt hat, dass sie das Opfer am Morgen seiner Ermordung gesehen hat.« Jones starrte ihn an.

»Sie kriegen ihn trotzdem nicht, wie? Den Mistkerl, der die arme Frau erstochen hat. Ihr Bullen schnappt diese Kerle doch nie – ihr fangt immer nur Leute, die zu schnell mit dem Auto unterwegs sind.« Er wandte sich ab und stapfte in Richtung Küchentür davon.

»Netter Zeitgenosse«, murmelte Pearce. Er fuhr vom Hof, während er sich fragte, was für eine Art von Familienversammlung in der Küche hinter ihm wohl stattfinden mochte. Auf dem Weg zurück nach Lower Stovey bemerkte er überrascht ein zweites Motorrad, das vor der Kirche auf seinem Ständer aufgebockt war. Die Tür zur Kirche stand offen. Pearce hielt an, stieg aus und ging leise unter dem Friedhofstor hindurch und über den kopfsteingepflasterten Weg zu der alten Eichentür mit den schmiedeeisernen Bändern. Dort blieb er stehen und lauschte. Er konnte Stimmengemurmel im Innern der Kirche ausmachen. Die Stimmen eines Mannes und einer Frau. Er zog die Tür auf und überquerte die Veranda zur Fliegentür. Die innere Holztür dahinter stand weit offen und war durch einen Haken gesichert, und Pearce konnte ins Innere der Kirche sehen. Der Mann und die Frau saßen auf einer Bank und waren in eine ernste Unterhaltung versunken. Pearce hatte kein Geräusch gemacht, doch vielleicht hatte ein Luftzug die beiden gewarnt. Der Mann blickte auf, und Pearce sah, dass es James Holland war, der Vikar von Bamford. Die Frau neben ihm war Ruth Aston. Pearce stieß die Drahttür ganz auf und rief vom oberen Rand der Stufen in die Kirche hinunter:

»Sorry, Reverend! Ich hab Ihr Motorrad draußen gesehen, aber ich wusste nicht, dass es Ihres war, wenn Sie verstehen, was ich meine. Die Kirche war ebenfalls offen, und ich dachte, ich gehe mal nachsehen.« Pater Holland erhob sich von der Bank und kam Pearce entgegen.

»Inspector Pearce, habe ich Recht? Danke sehr, dass Sie die Mühe auf sich genommen haben. Mrs. Aston und ich haben uns darüber unterhalten, was wir wegen der Kirche unternehmen sollen.«

»Dann lasse ich Sie mal besser ungestört weiterreden«, sagte Pearce.

»Guten Morgen, Mrs. Aston!«, fügte er hinzu. Ruth erwiderte seinen Gruß, doch sie erhob sich nicht von ihrem Platz auf der Bank. Pearce ließ die beiden zurück und ging zu seinem Wagen. Er war ein wenig überrascht gewesen, Ruth Aston so gelassen in der Kirche sitzen zu sehen, wenige Zentimeter von der Stelle entfernt, wo ihre Freundin ermordet worden war. Andererseits, dachte er, musste sie früher oder später zurück in die Kirche, falls sie immer noch die Kirchenvorsteherin war. Im Innern von St. Barnabas hatte James Holland wieder neben Ruth Aston Platz genommen.

»Ich frage mich, warum er noch einmal hergekommen ist«, sagte Ruth.

»Der Inspector? Ich nehme an, um seine Ermittlungen durchzuführen. Fühlen Sie sich immer noch wohl auf Ihrem Platz, Ruth? Möchten Sie nicht lieber woanders hin?« Sie schüttelte den Kopf.

»Nein. Ich kenne diese Kirche nun schon mein ganzes Leben, und ich will mich nicht durch das, was passiert ist, vom Betreten abhalten lassen. Außerdem …« Sie zögerte.

»Außerdem fühle ich mich Hester auf diese Weise irgendwie näher.« Sie warf ihm einen schuldbewussten Blick zu.

»Ich bin keine besonders religiöse Frau, wissen Sie?« Ihr Begleiter hob fragend die Augenbrauen.

»Ich weiß«, fuhr sie hastig fort,

»dass die Leute im Dorf glauben, ich wäre religiös. Doch obwohl ich die Tochter eines Vikars bin und Kirchenvorsteherin und die Kirche sauber halte und so weiter, würde ich mich nicht als religiös bezeichnen. All diese Dinge, die ich erwähnt habe, sind Teil einer Art zu leben. Einige Leute fangen mit Ikebana an, andere beschäftigen sich mit der Kirche. Was bleibt mir zu tun, wenn ich mich nicht um St. Barnabas kümmern kann? Mir fehlt, was man vermutlich spirituelle Veranlagung nennen könnte.«

»Tatsächlich?«, fragte er sanft.

»Und was ist eine spirituelle Veranlagung?«

»Jetzt wollen Sie mich in theologisches Garn einwickeln, wie?«, tadelte sie ihn.

»Ich kann es nicht beschreiben. Ich weiß nur, dass manche Menschen sie haben und andere nicht. Wie beispielsweise ich.«

»Wir alle bringen unsere Gaben zum Altar Gottes«, sagte der Vikar.

»Und alle sind gleich viel wert. Auch das Abstauben und Putzen der Kirche. Nicht jeder hat göttliche Visionen – glücklicherweise, wie ich hinzufügen möchte.« Sie lächelte schwach.

»Ich möchte überhaupt keine Vision haben. Ich wüsste nicht, was ich damit anfangen sollte.«

»Wie das viktorianische Kind, das gefragt wird, was es tut, wenn es die Tür öffnet und Jesus auf seiner Schwelle findet. ›Ich würde ihn reinbitten‹«, antwortet es.

»›Ich würde ihm ein Glas Sherry anbieten und den Vikar rufen lassen.‹« Diesmal lachte Ruth. Holland tätschelte ihr den Arm.

»Ich bin jedenfalls froh, dass Sie als Kirchenvorsteherin weitermachen können, Ruth, zumindest für die nächste Zukunft.«

»Bis ich aus Lower Stovey weggehe«, erinnerte sie ihn.

»Wie ich Ihnen bereits sagte, ich beabsichtige, The Old Forge zu verkaufen.«

»Natürlich. Ich weiß noch überhaupt nicht, was wir danach mit der Kirche machen sollen. Ohne Sie und Hester schätze ich, dass sie während der ganzen Woche geschlossen bleiben muss. Aber vielleicht bleibt uns sowieso keine andere Möglichkeit angesichts dessen, was sich allem Anschein nach oben im Glockenturm abgespielt hat. Es tut mir wirklich Leid, dass ich Sie mit dieser Information unter Stress gesetzt habe, Ruth.« Sie winkte ab.

»Hester und ich haben unsere Arbeit wohl doch nicht so gut gemacht, wie? Aber jetzt, nachdem es entdeckt wurde, ist es vielleicht vorbei, wer weiß? Insbesondere, nachdem die Schlösser der Turmtür ausgetauscht worden sind.«

»Selbst wenn die Kirche ständig verschlossen bleibt, wird sie sonntags zugänglich sein, wenn ich oder jemand anders nach Lower Stovey kommt, um den Gottesdienst zu halten. Ich habe nicht vor, die Kirche vollkommen ungenutzt zu lassen«, sagte er. Ruth lächelte ihn an.

»Es ist ein weiter Weg von Bamford hierher wegen einer so kleinen Gemeinde von Gläubigen.« Er straffte die Schultern.

»Nein, nein, ganz und gar nicht. Ich fahre anschließend weiter zum Manor und lese die heilige Messe für die Bewohner.« Ruth stieß einen Seufzer aus bei der Erwähnung des Altenwohnstifts, das früher einmal Fitzroy Manor gewesen war und das Elternhaus von Ruths Mutter.

»Ich habe das alte Manor seit Jahren nicht mehr gesehen. Selbst als ich noch ein Kind war, sind wir nur selten hingegangen. Meine Großeltern mütterlicherseits waren gestorben, und das Haus stand leer und zum Verkauf. Gelegentlich hat meine Mutter mich in den kleinen Wagen gesetzt und ist mit mir dorthin gefahren, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war. Es war eine Expedition, die ich jedes Mal gefürchtet habe. Das Haus war so dunkel und roch nach Staub. Der größte Teil des Mobiliars war herausgenommen worden. Wir hatten ein oder zwei Stücke davon im Vikariat, hauptsächlich dunkles viktorianisches Zeugs, bis auf einen hübschen kleinen RegencyKartentisch, den ich heute noch habe. Die besten Stücke vom Rest waren zum Auktionshaus gegangen, und im Haus war nur geblieben, was das Auktionshaus nicht wollte und für das es im Vikariat nach den Worten meiner Mutter keinen Platz gab. Was bedeutete, dass sie die Sachen nicht wollte. Die andere Entschuldigung war, dass der Immobilienmakler ein paar Möbel im Haus behalten wollte, weil es auf diese Weise besser aussah, als wenn es ganz leer gestanden hätte. Ich hab keine Ahnung, was ihn auf diese Idee gebracht hat! Das Erste, was man sah, wenn man die große Eingangshalle betrat, war eine große ausgestopfte Eule in einem Glaskasten! Die Eule und ein paar Hirschgeweihe an den Wänden. Grässlich! Unsere Schritte echoten durch das ganze Haus, und ich klammerte mich an den Rockschoß meiner Mutter wie eine Klette. Ich erinnere mich, als sie mich nach oben mitnahm und mir ein Zimmer mit Gittern vor den Fenstern zeigte. Sie sagte, es wäre die Kinderstube gewesen. Ich war entsetzt! Es sah aus wie ein Gefängnis und ich sagte ihr das. Sie lachte und meinte, nein, nein, nur eine Vorsichtsmaßnahme, wie sie in der viktorianischen Zeit üblich gewesen wäre, damit die Kinder nicht herausfallen können. Ich weiß noch genau, wie froh ich war, dass ich nicht dort wohnen musste oder in diesem vergitterten Zimmer schlafen!«

»Die Zeiten ändern sich«, sagte James Holland mit einem Lächeln.

»Die Kinder werden heute nicht mehr in einem abgelegenen Kinderzimmer hinter Gitter gesperrt, bis sie alt genug sind, um sich in der Gesellschaft Erwachsener zu benehmen.«

»Meine Mutter hat nicht viel über ihre Kindheit geredet«, sagte Ruth.

»Als mein Großvater noch lebte, hatten sie Pferde. Mutter erwähnte ein Pony, das sie auf den Namen Patch getauft hatte. Ansonsten kann ich mich nicht erinnern, dass sie mir irgendetwas aus jener Zeit erzählt hätte.«

»Manchmal ist es schmerzhaft, über Dinge zu sprechen, die man verloren hat«, sagte der Vikar.

»Beispielsweise über Hester, meinen Sie? Ich empfinde es nicht als schmerzvoll, über Hester zu reden.« Ruth blickte sich in der Kirche um und musterte die verschiedenen Monumente.

»Ich habe eine Menge nachgedacht seit Hesters Tod, James.«

»Das kann ich mir denken.«

»Nicht nur über sie. Über alles Mögliche.« Sie sah Holland an und grinste schief.

»Mein Vater hat mich erzogen, immer nur das Beste in allen Menschen zu sehen, und glauben Sie mir, ich habe mir die größte Mühe gegeben! Ich war Lehrerin, und ich habe versucht, auch in dem schwächsten Schüler noch irgendetwas Positives zu erkennen. Es ist nicht einfach, vor allem nicht, wenn man das Gefühl hat, dass einem Unrecht geschieht, in seinem Gegenüber das Beste zu sehen. Oder nach einem schweren Verbrechen zu vergeben und zu versuchen, die verantwortliche Person zu verstehen.«

»Haben Sie dem Vater Ihres Kindes verziehen, dass er Sie und das Kind verlassen hat?«, fragte Holland.

»Ich empfinde heute Mitleid mit ihm. Ich hasse ihn nicht mehr, wenn Sie das meinen. Simon war kein böser Mensch, nur fehlerhaft. Hat es Sie nicht überrascht, als ich Ihnen all das erzählt habe?«

»Ich bin nur selten überrascht.« Jetzt war James Holland an der Reihe mit einem ironischen Grinsen.

»Und da Sie es bereits Alan und Meredith erzählt haben, nehme ich an, Sie hielten es für klug, auch mit mir darüber zu sprechen.«

»Für den Fall, dass die beiden es erwähnen? Das würden sie nicht tun. Die beiden sind … sie sind ein sehr diskretes Paar, oder nicht?« James lachte auf.

»Alan ist äußerst diskret, so viel steht fest. Ich weiß nicht, ob Meredith immer diskret ist, aber sie ist eine besonnene Person.«

»Bei der Gerichtsverhandlung …«, begann Ruth zaghaft,

»… bei der Gerichtsverhandlung habe ich mich für einen kurzen Augenblick gefragt, ob Simon, nachdem er mich wiedergesehen hatte, in den Wald gegangen und etwas Unbesonnenes getan haben könnte, in einem Anfall von später Reue.«

»Ah. Sie meinen Selbstmord.«

»Aber dann dachte ich, sei nicht albern, Ruth. Ganz sicher hat er nichts dergleichen getan! Jemand hätte seinen Leichnam gefunden, und außerdem kannte ich ihn gut genug, um zu wissen, dass es nicht sein Stil war. Er war verlobt und wollte eine andere Frau heiraten, das haben sie bei der Gerichtsverhandlung gesagt. Endlich hatte er jemanden gefunden, den er heiraten wollte. Ich kann nicht sagen, dass es mir nicht wehgetan hätte, als ich davon erfuhr. Aber so war Simon nun mal. Er schüttelte unangenehme Erfahrungen oder Fakten einfach ab und ging unbeeindruckt weiter seinen Weg. Ich denke, ›alles prallte an ihm ab wie Wasser‹ ist ein Ausdruck, der wie geschaffen war für Simon Hastings.« Pater Holland nickte.

»Ich kenne selbst eine Reihe von Menschen, die so sind.« Sie bedachte ihn mit einem weiteren hastigen Blick.

»Bitten Sie mich nicht, Hesters Mörder zu vergeben. Das kann ich nicht.«

»Als abstraktes Konzept verstehe ich, dass Ihnen das nicht möglich ist. Lassen Sie sich Zeit. Wenn wir wissen … na ja, wenn die Polizei fertig ist mit ihren Ermittlungen, hoffentlich mit Erfolg, dann ist die Zeit gekommen, die Geschehnisse zu verarbeiten – genauso, wie Sie irgendwann verarbeitet haben, dass Sie als junge Frau und werdende Mutter verlassen wurden.«

»Sie meinen, wenn die Polizei den Mörder gefunden hat. Wie kann die Polizei erfolgreich sein, wenn Hester immer noch tot ist?«, fragte Ruth.

»Ich sollte lieber denken, dass Hester nun Frieden gefunden hat, meinen Sie nicht? Aber ich bin selbstsüchtig und will Hester zurück, hier bei mir! Sie hat nicht verdient, was man ihr angetan hat!«

»Nein«, sagte Pater Holland.

»So etwas hat niemand verdient. Genauso wenig, wie Simon Hastings verdient hat, was ihm widerfahren ist, was auch immer es gewesen sein mag. Das Leben erscheint uns häufig voller Ungerechtigkeiten. Wir alle haben Mühe, das zu begreifen. Vielleicht fällt es uns heutzutage noch schwerer als früher, nachdem wir alle glauben, eine vollkommene Welt schaffen zu können. Wir experimentieren mit der Gesellschaft, wir machen ständig neue Fortschritte in der Medizin, wir bringen alles ins Lot, oder jedenfalls erscheint es uns so. In Wirklichkeit ist es jedoch anders, und wenn wir mit dieser Tatsache konfrontiert werden, regt sich Widerstand in uns.«

»Sie glauben, dass Simon ermordet worden sein könnte, nicht wahr?«, fragte Ruth.

»Ich stelle mir die gleiche Frage. Denkt die Polizei das ebenfalls?«

»Die Polizei ist an die Entscheidung der Gerichtsverhandlung gebunden. Es gab keinerlei Hinweise, dass Simon Hastings Opfer eines Verbrechens wurde. Es geschieht nicht selten, dass junge, anscheinend gesunde Männer von einer Sekunde auf die andere tot umfallen. Wäre der Leichnam damals rechtzeitig gefunden und eine Autopsie vorgenommen worden …« Holland brach ab.

»Entschuldigung«, sagte er einmal mehr.

»Die Reihe ist wohl eher an mir, meinen Sie nicht?«, entgegnete Ruth offen.

»Ich war schließlich diejenige, die sich nicht bei der Polizei gemeldet und ausgesagt hat, ihn gesehen zu haben, als er damals verschwand. Und das war der Grund, warum er nicht gefunden wurde.«

»Vielleicht hätte die Polizei ihn trotzdem nicht gefunden, selbst wenn Sie ausgesagt hätten. Falls, und es ist ein weit hergeholtes Falls, Simon Hastings ermordet wurde, hätte der Mörder den Leichnam mit Sicherheit versteckt. Dass bis vor kurzem niemand eine Spur des Toten gefunden hat, legt die Vermutung nahe, der Leichnam wäre versteckt gewesen. Doch ob er absichtlich versteckt wurde, ist eine andere Frage. Vielleicht ist er unter einen Busch gerollt, nachdem er tot umgefallen war. Ein Sturm wie der, den wir vor ein paar Nächten hatten, könnte Äste von Bäumen gerissen und den Toten damit bedeckt haben. Es gibt eine beliebige Anzahl möglicher Erklärungen.« Ruth dachte über seine Worte nach.

»Verraten Sie mir, James, glauben Sie an das Böse?«

»Ja«, antwortete Holland leise.

»Das tue ich.«

»Glauben Sie, dass eine böse Macht die Hände im Spiel hat in Lower Stovey?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete er aufrichtig.

»Doch es gibt noch vieles, das wir nicht wissen, Ruth. Wir müssen abwarten. Es ist schwer, ich weiß, doch wir haben keine andere Möglichkeit.«

»Und dann wird es sich zeigen? Meinen Sie das?«

»Falls es das tut – wenn es das tut«, antwortete er ernst,

»dann werden wir es erfahren.«

KAPITEL 13

DASS AUSGERECHNET Markby den alten Amyas Fitchett ausfindig gemacht hatte und dadurch auf Ruth Astons Vergangenheit gestoßen war, wurmte Pearce nicht wenig. Das war der Fall, bei dem er zu glänzen gehofft hatte. Bisher jedoch schien er dem Superintendent ständig einen Schritt hinterherzuhinken. Entschlossen, Markby zu beweisen, dass auch er ein gewisses Maß an Erfolg hatte, ging er nach seiner Rückkehr von der Greenjack Farm in Markbys Büro und verkündete seinem Boss, dass er eine Zeugin gefunden hatte, die etwas über Hester Millars Bewegungen an jenem Morgen aussagen konnte.

»Sie ging geradewegs an der Kirche vorbei«, berichtete er Markby.

»Sie hätte eigentlich über den Friedhof zur Tür gehen und aufschließen müssen, genau wie sie es Ruth Aston gegenüber gesagt hat.«

»Was sie irgendwann ja wohl auch getan hat«, entgegnete Markby klagend.

»Schließlich ist sie in der Kirche gestorben.«

»Ah!«, sagte Pearce triumphierend.

»Aber bevor sie die Kirche aufgeschlossen hat und hineingegangen ist, ging sie noch irgendwo anders hin, und ich beabsichtige herauszufinden, wen sie besucht hat. Es ist schließlich nur ein kleines Dorf, nicht wahr? Es kann nicht so viele Möglichkeiten geben. Irgendjemand«, sagte Pearce grimmig,

»irgendjemand in diesem Dorf verschweigt uns etwas. Hester Millar hat am frühen Donnerstagmorgen irgendjemanden besucht, bevor sie zur Kirche gegangen ist, um aufzuschließen. Warum hat sich diese Person nicht bei uns gemeldet?«

»Was haben Sie vor, deswegen zu unternehmen?«, erkundigte sich Markby.

»Ich werde an jede verdammte Tür in diesem Dorf klopfen. Sicher, mir ist bewusst«, fügte er hastig hinzu,

»mir ist bewusst, dass wir dies bereits einmal getan haben, aber wir werden es noch mal tun, und dann noch mal und noch mal, bis irgendjemand endlich mit der Wahrheit herausrückt.« Es war ein wunderbarer, volltönender Satz. Pearce war recht zufrieden mit seiner Wortwahl. Markby verzichtete auf einen Kommentar, doch er dachte bei sich, dass Pearce ziemlich optimistisch war, wenn er glaubte, auf diese Weise Informationen aus den Bewohnern von Lower Stovey pressen zu können. Markby hatte vor all den Jahren seine Erfahrungen mit den Einwohnern von Lower Stovey gemacht und wusste, was es hieß, in jener zurückgebliebenen Gegend Erkundigungen einzuziehen. Er rechnete nicht damit, dass Dave heute mehr Erfolg haben würde als er selbst damals.

»Übrigens«, sagte er,

»James Holland hat mir verraten, dass Reverend Picton-Wilkes seinen eigenen Schlüsselsatz von St. Barnabas in einer Schublade in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen aufbewahrt. Er ist, wie es scheint, ziemlich auf Sicherheit bedacht und dementiert sehr vehement jegliche Andeutung, jemand könnte sich die Schlüssel unbemerkt von ihm ausgeborgt haben. Ich nehme stark an, dass, wer auch immer die geheimnisvollen Schlüssel besitzt, im Dorf wohnt. Diese Schlüssel machen unsere Ermittlungen so elend schwer! Es besteht nämlich durchaus die Möglichkeit, dass der Mörder sich selbst Zutritt zur Kirche verschafft und hinter sich wieder abgesperrt hat, um auf Hester zu warten. Andererseits haben wir bisher auch nicht den geringsten Hinweis auf irgendjemanden gefunden, der etwas gegen Hester Millar hatte oder ihr schaden wollte!«, schnaubte Markby.

»Ich hasse Verbrechen, die nach außen hin scheinbar kein Motiv haben! Hester war keine Einheimische als solche, sondern eine Zugereiste. Ihre Beziehungen zu den Dorfbewohnern waren eher oberflächlich. Sie lebte zurückgezogen bei Ruth Aston, und Ruth genießt in Lower Stovey hohes Ansehen. Hester zu ermorden war gleichbedeutend damit, Ruth alles zu nehmen, was sie auf der Welt hatte. Ich hätte eigentlich geglaubt, dass Hester so ungefähr alles hätte machen können, und die Bewohner von Lower Stovey hätten es toleriert, um Ruths willen. Aber Hester hat nichts angestellt, oder? Ihr einziger Fehler war, dass sie an jenem Morgen losgetrottet ist, um die Kirche aufzusperren.«

»Wie ich Ihnen bereits sagte«, erklärte Pearce.

»Diese Dorfbewohner sind eine verschworene Bande. Ich werde auch nach den Schlüsseln fragen, selbst wenn niemand mit mir reden will.« Markby murmelte Zustimmung. Seine Gedanken wanderten zu den persönlichen Aspekten der Ereignisse. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr sah er sich gezwungen einzuräumen, dass Meredith von Anfang an völlig Recht gehabt hatte. Sie konnten unmöglich in diesem Dorf leben, weder im ehemaligen Vikariat noch in The Old Forge. Er musste verrückt gewesen sein, Meredith überhaupt nach Lower Stovey mitgenommen zu haben, um das Vikariat zu besichtigen. Andererseits hätte er den Streifenwagen nicht gesehen, wären sie nicht nach Lower Stovey gefahren, und die Information über den Fund der alten Knochen hätte ihn womöglich nie erreicht. Die Angelegenheit wäre auf dem Schreibtisch von jemand anderem gelandet und schließlich in Vergessenheit geraten. Ruth Astons rührendes Vertrauen in die Fähigkeiten der Polizei wäre enttäuscht worden. Jede Polizeibehörde im Land litt unter Mangel an Personal, Zeit und Ressourcen. Nachdem erst einmal festgestellt worden wäre, dass die Knochen seit mehr als zwanzig Jahren in Stovey Woods gelegen hatten, dass es nicht mehr als eine Hand voll davon gab und dass außerdem und über allem keinerlei Spuren von Gewalteinwirkung an ihnen zu entdecken war, wäre die Chance, dass jemand beharrlich an ihrer Identifikation gearbeitet hätte, äußerst gering gewesen. Allein Markby mit seinen Erinnerungen an Stovey Woods war beharrlich genug gewesen und hatte darauf bestanden, den Toten zu identifizieren. Und lediglich das ganz und gar erstaunliche Glück, dass der Kieferknochen distinktive zahntechnische Arbeiten zeigte, hatte letztendlich zum Erfolg geführt. Und trotzdem vermutete Markby, dass irgendwo irgendjemand sich die Frage gestellt hatte, ob der Aufwand gerechtfertigt gewesen war. War es gerechtfertigt gewesen, dass Markby so viele der beschränkten Ressourcen investiert hatte auf etwas, das in nicht mehr als einer oberflächlichen Gerichtsverhandlung zur Feststellung der Todesursache resultierte mit einem vorhersehbaren Urteilsspruch? Mrs. Hastings, die Mutter des Toten, würde sicherlich Ja sagen, nachdem das Rätsel um das geheimnisvolle Verschwinden ihres Sohnes endlich gelöst war. Markbys Vorgesetzte würden eher zu einem Nein tendieren. Pearce redete weiter über seine Theorie, und Markby riss sich zögernd aus seinen Gedanken und konzentrierte sich auf das, was der Inspector sagte. Ihm wurde bewusst, dass er einen Teil von Pearces Erklärungen versäumt hatte, als Pearce bemerkte:

»Und da wäre noch etwas. Hester Millar hatte etwas bei sich. Etwas Kleines.« Pearce machte mit den Händen eine Geste, die ein rundes Objekt darstellen sollte.

»Linda Jones kann sich nicht erinnern, was es war. In der Kirche jedenfalls hatte Hester es nicht mehr bei sich. In ihrer Handtasche fanden wir lediglich die üblichen Dinge. Es war nichts da runter, was so groß war, dass sie es in der Hand hätte tragen müssen. Also ist dieses Etwas verschwunden, und zwar zwischen dem Zeitpunkt, an dem Hester von Mrs. Jones gesehen wurde, und dem Moment, in dem Miss Mitchell die Tote gefunden hat.« Pearce verzog das Gesicht.

»Mrs. Jones meint sie könnte sich nicht genau erinnern, was es war, aber ich denke, wenn ihr Sohn nicht aufgetaucht und in unsere Unterhaltung geplatzt wäre und irgendwas von einer Disco zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag erzählt hätte, hätte ich es aus ihr herausholen können.« Markby hatte mit einem Kugelschreiber gespielt, während Pearce berichtete. Jetzt blickte der Superintendent auf.

»Wie war das noch mal?« Pearce blinzelte überrascht.

»Was genau?«

»Der Sohn mit seinem Geburtstag.« Wieso interessiert sich der Alte denn ausgerechnet für etwas so Banales?, sinnierte Pearce.

»Der Name des Jungen ist Gordon. Ein Rowdy mit fuchsrotem Haar und einem Motorrad. Er wohnt nicht auf der Farm. Er wird nächsten Dienstag einundzwanzig und wollte, dass seine Mutter und seine Schwester zu einer Party kommen, die er hier in Bamford veranstaltet. Das ist die Disco, und ich gehe jede Wette ein, dass die Kids Amphetamine einwerfen und high wie nur sonst was sind, ganz zu schweigen vom Alkohol, den die Minderjährigen in sich kippen.«

»Wenn seine Freunde im gleichen Alter sind, wird es keine minderjährigen Trinker geben. Und was die Drogen angeht, wenn erwachsene Mitglieder der Familie anwesend sind …« Pearce ließ Markbys Einwand nicht gelten.

»Mrs. Jones war der Meinung, dass Mr. Jones keine Lust haben würde auf Disco. Dem Jungen war es egal, dass sein Vater vielleicht nicht kommen würde. Ich vermute, er hofft sogar, dass er nicht kommt. Ich sage Ihnen, Sir, das ist eine ziemlich merkwürdige Familie. Es gibt einen alten Mann, der sie nicht mehr alle hat und …« Pearce brach ab und schielte neugierig auf den Schreibtisch des Superintendents. Markby hatte den Kugelschreiber in die Hand genommen, sobald Pearce angefangen hatte zu wiederholen, und jetzt schien er zu rechnen.

»Nächsten Dienstag wird er einundzwanzig, sagen Sie? Dann wurde dieser junge Bursche, Gordon, im April 1979 geboren. Was bedeutet, dass er irgendwann Anfang August 1978 gezeugt wurde. Vorausgesetzt natürlich, Mrs. Jones hatte eine normale Schwangerschaft von vierzig Wochen.« Pearce starrte seinen Boss verblüfft an.

»Ja – und?«, fragte er.

»Und das könnte wichtig sein«, lautete die bedeutungsschwangere Antwort. Verärgert grollte Pearce:

»Es gibt keinerlei Verbindung zwischen ihm und Hester Millar, jedenfalls keine, über die ich gestolpert wäre. Der Bursche wohnt nicht mal in Lower Stovey. Ich nehme an, wir könnten ihn ausfindig machen und fragen, was er zur fraglichen Zeit getan hat, falls Sie das möchten. Allerdings rechne ich nicht damit, dass wir von ihm etwas Neues erfahren.«

»Ich bin nicht daran interessiert, mit Gordon Jones zu reden«, erwiderte Markby.

»Ich interessiere mich vielmehr für seine Mutter. Tut mir Leid, wenn ich Sie verwirre, Dave. Sie haben ganz Recht, kümmern Sie sich um den Fall Hester Millar. Ich bin bei einem Fall, der zweiundzwanzig Jahre zurückliegt, eine Serie von Vergewaltigungen. Damals, als ich auf der Jagd nach dem Kartoffelmann raus zur Greenjack Farm gefahren bin, bin ich dem jungen Kevin Jones begegnet. Damals war er noch unverheiratet.«

»Er war wahrscheinlich bereits liiert«, entgegnete Pearce vernünftig.

»Lindas Eltern hatten die Church Farm direkt nebenan. Die beiden mögen damals noch nicht verheiratet gewesen sein, aber sie haben sich bestimmt schon im Heuschober vergnügt.«

»Möglich, dass es so war, Dave. Hat Mrs. Jones rotes Haar?«

»Was?« Pearce blinzelte erneut und starrte seinen Vorgesetzten misstrauisch an.

»Nein, sie ist eher blond. Die Sorte von Blondine, die grau werden kann, ohne dass man es bemerkt.«

»Und Kevin Jones besitzt ebenfalls keine roten Haare, genauso wenig wie der alte Martin Jones rote Haare gehabt hat.« Pearce betastete abwesend seinen Kiefer, wo der Zahn bösartig angefangen hatte zu pochen.

»Es gibt ein weiteres Kind, Becky, die in Bamford auf dem Community College zur Schule geht.«

»Es wäre interessant herauszufinden, ob Becky rotes oder rotblondes Haar besitzt«, sagte Markby. Schweigen breitete sich aus.

»Damit ich Sie richtig verstehe, Sir«, fing Pearce schließlich vorsichtig an.

»Glauben Sie, dass Gordon möglicherweise ein Kuckuckskind ist?«

»Es würde zumindest eine gewisse Distanziertheit zwischen ihm und seinem Vater erklären, meinen Sie nicht?«

»Spielt das denn eine Rolle für uns?«

»Jedes Kind, das in Lower Stovey im Spätsommer 1978 geboren wurde und dessen wahre Elternschaft nicht eindeutig feststeht, ist von Interesse für mich«, erwiderte Markby.

»Kennen Sie jemanden, der Schüler an dieser Schule ist?«

»Tessas kleine Schwester«, sagte Pearce.

»Glauben Sie, dass Sie von ihr erfahren könnten, welche Haarfarbe Becky Jones hat, ohne sie neugierig zu machen?«

»Besser, wenn Tessa fragt«, sagte Pearce ohne zu überlegen.

»Es sieht ganz sicher merkwürdig aus, wenn nicht sogar heikel, wenn ich anfange, nach rothaarigen Schulmädchen zu fragen.«

»Ich verstehe. Würde Tessa kooperieren?« Tessa hatte sich in jüngster Zeit alles andere als kooperativ gegeben. Doch es würde sie interessieren.

»Ich denke schon«, antwortete Pearce. Er zögerte, dann fuhr er fort:

»Wir müssen also herausfinden, wer Gordons richtiger Vater ist – vorausgesetzt natürlich, er ist nicht Gordons leiblicher Sohn?«

»Überlegen Sie doch mal, Dave!«, sagte Markby gereizt.

»August 1978! Was geschah in jenem Sommer?«

»Sowohl der Kartoffelmann als auch Simon Hastings verschwanden spurlos«, sagte Pearce.

»Himmel! Sie glauben doch nicht …?«

»Ich sage Ihnen, was ich glaube, Dave«, unterbrach Markby ihn.

»Ich glaube, es gab mehr Vergewaltigungen, als der Polizei gemeldet wurden. Wir wissen nicht mal, ob Mavis Cotter das erste Opfer war. Nur das Erste, von dem wir erfahren haben. Nehmen wir für einen Augenblick an, nur als Theorie, dass Linda Jones als junges Mädchen ebenfalls vom Kartoffelmann vergewaltigt wurde und nie Anzeige erstattet hat. Falls dem so ist, ist sie eine äußerst wichtige Zeugin. Vergessen Sie nicht, Dave, ich habe von Anfang an geglaubt und glaube noch heute, dass der Vergewaltiger aus den Stovey Woods ein Einheimischer war.«

»Hören Sie, Sir«, begann Pearce vorsichtig,

»ich weiß ja, dass Sie diesen Fall gerne gelöst hätten. Aber nach zweiundzwanzig Jahren …«

»Was sind zweiundzwanzig Jahre in einer so kleinen Gemeinschaft wie Lower Stovey? Oh, im Verlauf der Jahre sind Leute zugezogen, keine Frage. Neue Häuser, wo die alte Schule gestanden hat. Cottages wurden an Städter verkauft, die sie als Wochenendwohnungen benutzen. Doch der Kern der Einwohnerschaft, die alteingesessenen Familien, sie wohnen noch dort. Vielleicht ist das eine oder andere Familienmitglied weggezogen, wie Gordon Jones beispielsweise. Doch die Familien sind in Lower Stovey geblieben, Dave, und sie sind ein verdammt verschworener Haufen, wie Sie sicherlich bereits am eigenen Leib erfahren haben.«

»Sie glauben doch nicht, dass der Vergewaltiger immer noch in Lower Stovey wohnt?«, fragte Pearce, und seine Zweifel waren nicht zu überhören.

»Kommen Sie, Sir. Das ist ziemlich weit hergeholt. Selbst wenn Sie Recht hätten, können wir Linda Jones wohl kaum fragen. Wenn sie schon damals den Mund gehalten hat, dann wird sie ihn jetzt bestimmt nicht aufmachen. Nicht jetzt, kurz vor dem einundzwanzigsten Geburtstag des Jungen. Das wäre wirklich kein passendes Geschenk für ihn.« Er bemerkte Markbys Blicke und fügte hastig hinzu:

»Ich bitte Tessa gleich nachher, Erkundigungen wegen Becky Jones einzuziehen.« Er wandte sich ab und ging zu seinem eigenen Büro zurück. Bevor er es erreichte, wurde ihm der Weg versperrt. Ginny Holding tauchte vor ihm auf, mit gerötetem Gesicht und offensichtlich außer Stande zu entscheiden, ob sie nüchtern und professionell dreinblicken oder lauthals loslachen sollte.

»Sie sollten lieber mitkommen, Sir, falls Sie einen Augenblick Zeit haben.«

»Ich hab aber keinen Augenblick Zeit«, entgegnete Pearce kleinmütig.

»Ich habe nie einen Augenblick Zeit. Und wenn ich jemals einen habe, dann geht er hin …«, er nickte mit dem Kopf in Richtung von Markbys Büro,

»… und findet etwas, womit er den Augenblick ausfüllen kann. Was gibt es denn? Kommen Sie nicht allein damit zurecht?«

»Es geht um die Dinge, die Sie in diesem Kirchturm gefunden haben. Sie wissen schon, der Schlafsack und die …«

»Ja, ja.« Pearce riss sich zusammen.

»Ich weiß, was wir gefunden haben.«

»Eine Mrs. Spencer ist zu uns gekommen. Sie hat ihre Tochter mitgebracht, Cheryl. Die beiden sitzen unten im Vernehmungszimmer. Ich habe sie gebeten zu warten. Sie haben eine Aussage gemacht. Na ja, das Mädchen hat. Ich dachte nur, Sie würden es gerne selbst hören, Sir.«

Mrs. Spencer war eine kleine, stämmige Frau mit rotem Gesicht und streitlustigem Blick. Cheryl war bleich und hatte Pickel, doch sie war nicht unattraktiv. Ihre hellblauen, ein wenig vorstehenden Augen musterten Pearce wegwerfend, als dieser das Vernehmungszimmer betrat. Ihre Kiefer bewegten sich rhythmisch.

»Ich hab alles bereits dieser Beamtin erzählt!«, begehrte

Mrs. Spencer auf.

»Und Cheryl hat ihre Aussage unterschrieben!«

»Das wurde mir berichtet«, sagte Pearce.

»Ich weiß es zu schätzen, dass Sie trotzdem gewartet haben. Ich bin Inspector Pearce.« Der abfällige Blick war Dave nicht entgangen, und es stach.

»Ich untersuche die Vorfälle in der Kirche von St. Barnabas in Lower Stovey.«

Cheryl schnaubte zwar nicht, doch sie wirkte wenig beeindruckt. Ihre Mutter jedoch beeilte sich, ihre Tochter zu verteidigen.

»Cheryl hat nichts mit diesem Mord zu tun!«

Ginny mischte sich in die Unterhaltung ein.

»Niemand behauptet, dass sie etwas damit zu tun hat«, sagte sie an die Kaugummi kauende Cheryl gewandt.

»Doch der Inspector muss alles erfahren, was sich in dieser Kirche ereignet hat. Erzähl dem Inspector doch, was du mir erzählt hast, Cheryl.«

»Ich bin nicht mehr minderjährig!«, sagte Cheryl.

»Ich weiß, was ich tue. Es ist allein meine Sache und geht niemanden etwas an, okay? Meine und die von Norman. Sie können uns nicht belangen!«

»Aber ich kann!«, schnaubte Cheryls Mutter.

»Wenn ich mit Norman fertig bin, wird er sich wünschen, nie geboren worden zu sein!«

»Wer ist Norman?«, erkundigte sich Pearce.

»Norman Stubbings. Er führt das Pub, das Fitzroy Arms.« Cheryl hielt inne, nahm ein wachsfarbenes Stück Kaugummi aus dem Mund, betrachtete es stirnrunzelnd und blickte sich nach einem geeigneten Ort um, wo sie es ablegen konnte. Ginny Holding deutete auf den Aschenbecher auf dem Tisch. Cheryl ließ ihr Kaugummi hineinfallen.

»Er ist nämlich mein Freund.«

»Nein, ist er nicht!«, schimpfte ihre Mutter.

»Norman ist ein verheirateter Mann, und du solltest es wirklich besser wissen!« Cheryl ignorierte ihren Einwand.

»Ich hab abends im Pub gearbeitet. Gläser gespült und so. Ich wohne in Lower Stovey, was für ein Kaff!« Pearce fragte sich, ob es irgendetwas oder irgendwen außer dem abwesenden Norman Stubbings gab, das Cheryl nicht verachtete.

»Evie, das ist die Alte von Norman – sie mag mich nicht. Sie hat ständig auf mir rumgehackt. Sie schnüffelt ständig hinter uns her und versucht mich und Norman zu erwischen. Norman wollte nicht, dass sie Scherereien macht wegen der Brauerei und so. Also hab ich gekündigt und im Drovers’ Rest angefangen, oben bei dem alten Weg. Es ist hübsch dort oben. Interessante Leute, jede Menge, Radfahrer, Wanderer, und sie haben eine Maschine für die Gläser und das Geschirr. Natürlich hat es mir Leid getan, dass ich Norman nicht mehr so oft sehen konnte.«

»Man sollte wirklich meinen«, unterbrach Mrs. Spencer ihre Tochter erneut,

»man sollte wirklich meinen, dass ein Mädchen in ihrem Alter – sie ist gerade mal neunzehn geworden – sich einen jungen Mann sucht und nicht ihre Zeit mit einem Kerl verschwendet, der alt genug ist, um ihr Vater zu sein, ganz zu schweigen davon, dass er verheiratet ist! Du dumme kleine Schlampe!«, beschimpfte sie ihre Tochter.

»Ach, hör endlich auf, Mutter!«, entgegnete Cheryl.

»Du kennst Norman doch gar nicht!«

»Ich kenne Norman nicht? Da irrst du dich aber gewaltig, mein Kind! Norman Stubbings war in der ersten Klasse in der alten Schule, als ich in die letzte ging! Ein widerlicher, hinterlistiger kleiner Kerl mit einer ständig laufenden Nase, der immer ganz allein in der Ecke des Schulhofs stand, weil kein anderes Kind mit ihm spielen wollte. Ich erinnere mich sehr gut an seine Mutter, ein richtiger alter Besen war sie! Kaum jemals nüchtern! Sie stand draußen vor der Schule und beschimpfte die Lehrer. Wir hielten sie für plemplem!« Ginny Holding räusperte sich laut, und Cheryl kehrte zu ihrer Erzählung zurück.

»Jedenfalls, wie gesagt, nachdem ich nicht mehr im Fitzroy Arms arbeitete, war es schwierig für mich, Norman zu treffen. Und dann hatte er diese wirklich gute Idee. Verstehen Sie? Das Pub liegt gegenüber der Kirche. Die Kirche ist den größten Teil des Tages offen, aber es gehen nicht viele Leute hinein. Norman hat Schlüssel. Er kann jederzeit in die Kirche, wenn er will.«

»Woher hat er die Schlüssel?«, fragte Pearce verblüfft.

»Er hatte sie wohl schon immer. Na ja, eigentlich waren es die Schlüssel von seinem Dad. Früher, als es noch eine richtige Kirche mit einem Vikar war, gab es eine Glockenmannschaft, und Normans Dad war der Hauptmann. Er hatte die Schlüssel, sodass alle hinauf in den Turm gehen und dort üben konnten. Als die Kirche keine richtige Kirche mehr war, wurden auch die Glocken nicht mehr geläutet, aber niemand hat Normans Dad nach den Schlüsseln gefragt, also hat er sie behalten. Als er starb, fand Norman die Schlüssel unter den Sachen seines Vaters und legte sie in die Schublade seines Pubs. Dort haben sie jahrelang herumgelegen. Einer der Schlüssel ist für den Turm. Oben gibt es einen kleinen Raum. Wir haben uns dort getroffen, nachdem er mich auf dem Handy angerufen hat. Ich bin in die Kirche geschlüpft und hab dort auf ihn gewartet. Sobald er sich von Evie wegschleichen konnte, ist er rübergekommen und hat den Turm aufgesperrt, und wir sind nach oben gegangen. Zuerst war es echt cool.«

»Daran ist nichts ›cool‹!«, schimpfte ihre Mutter.

»Das ist abscheulich!«

»Wann?«, fragte Pearce.

»Wann haben Sie und Stubbings Ihr letztes Rendezvous im Turm gehabt?« Cheryl starrte ihn verdutzt an wegen des Wortes und wollte wissen, ob es bedeutete, dass man es zusammen machte.

»In deinem Fall wahrscheinlich, ja«, erwiderte Pearce ungerührt.

»Ooh, geil!«, krähte Cheryl.

»Ist das der Grund, aus dem Sie Inspector geworden sind? Weil Sie so schöne lange ausländische Wörter kennen?«

»Bleib beim Thema, Cheryl«, kam Ginny Holding Pearce zu Hilfe.

»Das letzte Mal, dass Norman und ich uns in der Kirche getroffen haben – dass wir ein Rendezvous hatten –, war, bevor die alte Frau erstochen wurde. Wenigstens zwei Wochen vorher. Wir haben es nicht mehr im Kirchturm gemacht. Evie war misstrauisch geworden, und es wurde immer schwieriger für Norman, sich wegzuschleichen. Er meinte, wir sollten uns an anderen Stellen treffen und nicht mehr in den Turm gehen, wie das Leute machen, die beobachtet werden. Ich hatte nichts dagegen, weil es im Turm langweilig geworden war. Ich meine, zuerst war es natürlich geil, aufregend, Sie wissen schon. Aber nach einer Weile hatte ich die Nase voll davon, auf dem Friedhof rumzuhängen zwischen all den Gräbern und auf ihn zu warten, und wenn ich reinkonnte, war es noch schlimmer. Es macht überhaupt keinen Spaß, so ganz allein in einer leeren Kirche zu sitzen mit all den Steinfiguren, die einen dauernd anstarren. Es hat mir nichts ausgemacht, wenn Norman dabei war, aber so ganz allein … es war unheimlich, ehrlich. Norman meinte, ich müsste keine Angst haben und er würde sich einen anderen Treffpunkt einfallen lassen.«

»Hat er?«

»Ja. Norman ist schlau. Er hat den alten Schuppen auf dem Parkplatz aufgetan.«

»Und dort hab ich die beiden gestern Abend überrascht!«, sagte Mrs. Spencer.

»Ich wusste, dass sie wieder mal was im Schilde führte. Ich hab gehört, wie sie in ihr kleines Telefon gemurmelt hat. Sie hat dieses Ding ständig am Ohr, wirklich ständig. Am Klang ihrer Stimme hab ich gehört, dass sie nichts Gutes im Schilde führte, so aufgeregt, wie sie geflüstert hat. Ich bin ihr gefolgt, und ich hab die beiden überrascht. Norman ist weggerannt, der kleine Feigling. Ich hab unsere Cheryl dazu gebracht, mir alles zu erzählen. In der Kirche, stellen Sie sich das vor! Dann dachte ich, dass wir herkommen und der Polizei alles erzählen sollten, weil in dieser Kirche jemand erstochen wurde und die Polizei ermittelt und so weiter. Evie ist eine gehässige Kuh – nicht, dass sie nicht allen Grund dazu hätte. Gut möglich, dass sie Ihnen erzählt, sie hätte Cheryl gesehen, wie sie in die Kirche gegangen ist. Nur um ihren Kerl wieder für sich alleine zu haben, verstehen Sie?«

»Es war richtig von Ihnen, Mrs. Spencer, und von dir, Cheryl, herzukommen.« Cheryl zog einen neuen Streifen Kaugummi aus der Tasche und wickelte ihn aus. Sie schob ihn in den Mund und bemerkte kauend:

»Norman wird das überhaupt nicht gefallen, so viel weiß ich.« Mrs. Spencer pflichtete ihrer Tochter blutrünstig bei. Nein, Norman Stubbings würde das nicht gefallen. Nicht ein Stück. Pearce kehrte zu Markby zurück und informierte seinen Boss, dass das Geheimnis um das Pärchen gelöst war, das sich im Turm zu seinen Schäferstündchen getroffen hatte. Wie es schien, hatte es nichts mit Hester Millars Tod zu tun.

»Als Hester umgebracht wurde, haben Stubbings und das Mädchen sich schon seit zwei Wochen nicht mehr im Turm getroffen. Sie gingen stattdessen in irgendeinen alten Schuppen. Die Mutter von Cheryl, Mrs. Spencer, ist ein richtiges altes Schlachtross. Wenn wir Norman Stubbings mit einem Messer im Rücken finden, dann wissen wir jedenfalls, wer es getan hat!«, schloss Pearce seinen Bericht. Hinterher fuhr er hinaus nach Lower Stovey, um dem Wirt des Fitzroy Arms eine ziemlich unbequeme halbe Stunde zu bereiten.

Es war immer angenehm, wenn man lose Enden verknüpfen konnte, und Pearce fuhr in guter Laune nach Hause. Tessa hatte ebenfalls gute Laune, und sie erwies sich als überraschend kooperativ, als er sie fragte, ob sie Lust hätte, ein paar diskrete Erkundigungen bei ihrer kleinen Schwester bezüglich Becky Jones einzuholen. Tatsächlich war sie erschreckend begierig, ein wenig Detektivarbeit zu leisten, wie sie es nannte. Pearce befürchtete, dass sie sich hinreißen lassen würde, und beobachtete ihren Aufbruch zu einem Familienbesuch mit einiger Besorgnis. Er wünschte, der Superintendent würde sich mehr dafür interessieren, wer den Mord an Hester Millar begangen hatte, anstatt dafür, den Vergewaltiger von vor zweiundzwanzig Jahren zu fangen. Pearce bezweifelte noch immer, dass der Täter in Lower Stovey wohnen geblieben war, falls er überhaupt je dort gelebt hatte. Und er war absolut überzeugt, dass der Kartoffelmann nicht nach so langer Zeit aus seiner Deckung aufgetaucht war, einfach nur, um Hester Millar zu erstechen.

Während Pearce über diese Dinge meditierte, saß Tessa im Kinderzimmer ihrer kleinen Schwester. Sie hatte sich geduldig eine lange Geschichte von Jasmins dramatischer Trennung von ihrem letzten Freund angehört, und nun, nachdem sie sich ihren Kummer von der Brust geredet hatte, unternahm Tessa ihren Schachzug.

Sie starrte in den Spiegel der Frisierkommode, zupfte an einer Strähne ihrer langen, hellblonden Haare und verkündete:

»Ich überlege, ob ich sie mir rot färben soll …«

»Was denn, deine Haare?«, fragte Jasmin, vorübergehend abgelenkt von ihrem gebrochenen Herzen.

»Warum denn das?«

»Zur Abwechslung. Warum nicht? Ich denke, es würde mir stehen.«

»Dave würde es nicht gefallen«, entgegnete Jasmin altklug.

»Ich wüsste keinen Grund, warum es ihm nicht gefallen sollte.« Tessa griff sich ins Haar und türmte es auf dem Kopf hoch.

»Ich möchte einen neuen Look.«

»Die meisten Frauen wollen blond sein«, sagte Jasmin neidisch und studierte ihre eigenen mausbraunen Locken im Spiegel über der Schulter ihrer großen Schwester.

»Aber es gibt viel weniger Rothaarige«, argumentierte Tessa.

»Wie viele Mädchen an deiner Schule haben echte rote oder hellrote Haare? Jede Wette, dass es nicht viele sind.« Jasmin dachte über Tessas Aussage nach und erwiderte schließlich:

»Michele King hat rote Haare, und sie hasst sie. Sie hat die typischen Sommersprossen von Rothaarigen, und sie kann sich nicht in die Sonne legen. Sie wird sofort rot. Wenn ihre Familie nach Spanien in die Ferien fährt, muss sie sich immer ganz anziehen, mit langen Ärmeln und so. Einmal hat sie einen Bikini getragen, und sie hat erzählt, sie hätte hinterher ausgesehen wie ein Krebs.«

»Aber ich habe nicht diese Haut, oder? Außerdem«, fuhr Tessa fort,

»außerdem haben nicht alle Rothaarigen dieses Problem. Ist in deiner Klasse nicht noch ein Mädchen, eine Becky irgendwas oder so, mit roten Haaren?« Jasmin runzelte die Stirn.

»Die einzige Becky, die ich sonst noch kenne, ist Becky Jones, und sie hat keine roten Haare. Ihre Haare sind braun, so ähnlich wie meine.«

»Oh, stimmt. Ich schätze, ich habe jemand anderen im Kopf. Aber ich glaube wirklich, ich lasse mir die Haare kurz schneiden. Ganz kurz, meine ich.«

»Du bist verrückt!«, sagte Jasmin.

Markby ging ebenfalls einer Fährte nach. Unter den Fotografien auf Old Billy Twelvetrees’ Kaminsims hatte er ein Bild der verstorbenen Mrs. Twelvetrees und dreier Kinder gesehen. Er hatte mit Dilys gesprochen. Er hatte keine Idee, wo er Sandra finden konnte, doch das störte ihn nicht sonderlich. Vielmehr interessierte er sich für den jungen Billy Twelvetrees, das älteste der drei düster dreinblickenden Kinder auf dem Foto. Dilys war im gleichen Alter wie Ruth Aston, von der Markby wusste, dass sie siebenundfünfzig war. Young Billy musste also ungefähr Anfang sechzig sein. Was bedeutete, dass er vor zweiundzwanzig Jahren um die vierzig gewesen war. Es gab keinerlei Unterlagen in der Kartoffelmann-Akte über eine Vernehmung von Young Billy im Zusammenhang mit den Vergewaltigungen. Da jeder andere Mann aus der Ortschaft befragt worden war – wie hatten sie Young Billy Twelvetrees übersehen können? Wenn er nicht im Dorf gewesen war, wo hatte er damals gesteckt?

Young Billy aufzuspüren fiel nicht weiter schwer, wie sich herausstellte. Der Familienname war ungewöhnlich, und sein Träger war nicht in weite Ferne gezogen. Er wohnte in Bamford in einem schmalen Reihenhaus mit einem winzigen Vorgarten, der pedantisch gepflegt war. Alles darin war passend im Maßstab und damit winzig. Das Prinzip bestand darin, vermutete Markby, dass man alles darin unterbrachte, was es auch in einem größeren Garten geben mochte. Bonsaikleine Büsche umgaben eine winzige Rasenfläche, in deren Mitte ein Steinbecken stand, nicht viel größer als ein Essteller und gefüllt mit Kieseln, über die Wasser plätscherte, das kaum ausgereicht hätte, um sich damit die Zähne zu putzen. In einem winzigen Beet an der Seite standen rote Miniaturtulpen wie Wachsoldaten. Das Beet war so schmal, dass es eher aussah wie eine Reifenspur. Neben der Haustür stand eine griechische Amphore von der Größe einer Milchflasche mit einer Miniaturrose darin. Auf der anderen Seite hockte ein kleiner grüner Keramikfrosch. Markby fühlte sich wie Gulliver unter den Liliputanern.

Die Tür wurde, wenig überraschend, von einer winzigen, gepflegt erscheinenden Frau mit einer makellosen Frisur geöffnet. William, so beschied sie Markby, war hinten im Garten. Markby wurde eingeladen, durch das Haus nach hinten zu gehen.

Inzwischen genauso neugierig auf den hinteren Garten wie auf den Gärtner durchquerte Markby den Flur und die ebenso winzige wie erstaunlich aufgeräumte und saubere Küche. Die Hintertür führte nach draußen in den Patio – zumindest gewann Markby den Eindruck, dass es einen Patio darstellen sollte. Er war nicht viel größer als der Vorgarten, doch offensichtlich entstammte seine Gestaltung der gleichen Hand. Er war etwa vier Gehwegplatten lang und drei breit. Auf den Platten standen zwei wenig bequem aussehende weiße Gartenstühle aus Plastik. Der Rest des Gartens war in makellos gehackte, unkrautfreie Beete aufgeteilt, jedes einzelne von Handtuchgröße. In jedem Beet steckte ein winziges Schild, auf dem zu lesen stand, welche Gemüsesorte in Kürze die ersten Triebe durch das Erdreich ans Licht schieben würde, mit Ausnahme eines einzigen Beetes, in dem in mathematisch genauer Ausrichtung Zwiebeln wuchsen. An der am weitesten vom Haus entfernten Stelle, die Markby mit einem halben Dutzend großer Schritte erreichte, war ein Mann damit beschäftigt, sechs Bambusstäbe sorgfältig zu einer Art Wigwam-Gestänge zusammenzufügen.

»Für die Bohnen«, informierte er Markby, als der Besucher näher gekommen war.

»Wenn ich sie gepflanzt kriege, heißt das. Im Augenblick sind sie noch unter Glas, und ich warte darauf, bis ich die Setzlinge ziehen kann.«

Markby vermutete, dass mit

»unter Glas« das schuhkartongroße Frühbeet gemeint war. Selbst der einfallsreiche Young Billy – oder William, wie seine Frau ihn nannte – hatte noch keinen Weg gefunden, wie man ein richtiges Treibhaus in dem winzigen Garten unterbringen konnte. Wenn er genügend Zeit hatte, würde er es wahrscheinlich eines Tages tun. Es war eigenartig, einen Mann von mehr als sechzig Jahren mit dem Attribut

»jung« zu versehen, doch Markby bemerkte rasch, warum die Leute es für notwendig erachteten. Young Billy Twelvetrees besaß eine verblüffende Ähnlichkeit mit seinem Vater Old Billy. Er war genauso klein und stämmig und noch immer muskulös, wohingegen Old Billys Muskeln mit den Jahren geschwunden waren. Auch besaß er die wettergegerbte Haut, die ein Leben an der frischen Luft verriet. Es sah aus, als hätte er ständig nur draußen gearbeitet. Auf dem Kopf hatte er eine abgerissene Mütze, und rings um den Hutrand zeigte sich ein schmaler Streifen schlohweißer Haare. Er trug eine alte, saubere, regendichte Bomberjacke über einem selbst gestrickten Pullover. Seine Hände, mit denen er die Bambusstangen zusammenband, waren groß und knotig.

»Gute Idee«, sagte Markby mit einem Nicken in Richtung der Bohnenstangen. Er hielt dem Mann seinen Dienstausweis hin.

»Was dagegen, wenn wir uns kurz unterhalten?«

Young Billy blinzelte Markbys Dienstausweis aus zusammengekniffenen Augen an.

»Ich hab meine Brille nicht da«, sagte er schließlich.

»Sie müssen mir schon erzählen, was da draufsteht.«

»Da steht drauf, dass ich Superintendent Markby von der

Regional Serious Crimes Squad bin.«

»Oh, aha«, machte Young Billy, immer noch mit der Schnur beschäftigt, die sein Wigwam zusammenhalten sollte.

»Sie kommen aus Lower Stovey, wenn ich recht informiert bin? Sie sind der Sohn von Old Billy Twelvetrees, nicht wahr?«

»Oh. Aha. Als Junge bin ich dort aufgewachsen. Ich wohn seit über vierzig Jahren nicht mehr dort.«

»Wir ermitteln wegen gewisser Vorfälle in Lower Stovey.«

»Eine Frau wurde erstochen. Hab davon gehört.«

»Ja. Besuchen Sie gelegentlich Ihre Familie dort?«

»Nein. Gibt keinen Grund dazu.« Young Billy schüttelte den Kopf.

»Sie besuchen Ihren Vater und Ihre Schwester nicht?«, fragte Markby.

»Die?« Young Billy machte zufrieden den letzten Knoten auf die Schnur um seine Bambusstangen und wandte sich seinem Besucher zu.

»Das letzte Mal hab ich den alten Knaben an Weihnachten gesehen. Ich hab keinen Wagen, und er auch nicht. Aber mein Nachbar ist in die Richtung gefahren und hat mich mitgenommen. Unser Vater hat sich nicht verändert. Er ist der gleiche elende alte Teufel wie eh und je. Keine Ahnung, wie Dilys es bei ihm aushält. Sie kommt manchmal bei uns vorbei, wenn sie zum Einkaufen in Bamford ist. Diese Frau, bei der sie putzt, Mrs. Aston, nimmt sie immer mit in die Stadt. Dilys hat sich auch nicht verändert«, sinnierte Young Billy.

»Sie war schon immer ein großer Tölpel. Aber eine gute Arbeiterin, schätze ich.« Die letzten Worte fügte er hinzu, damit Markby nicht auf den Gedanken kam, er wäre illoyal. Markby kam nicht auf derartige Gedanken. Er war realistisch. Man kann sich seine Freunde aussuchen, aber nicht seine Verwandten, wie es so schön heißt. Die arme Dilys schien seltsam ungeliebt in ihrer Familie.

»Ich war vor vielen Jahren schon einmal in Lower Stovey«, sagte er im Konversationston.

»Damals haben wir eine Serie von Vergewaltigungen untersucht, die sich in den Wäldern der Gegend ereignet hatten.« Young Billy blinzelte in den Himmel hinauf und dann Markby an.

»Das war die Sache mit dem Kartoffelmann, richtig?«

»Ja. Wie ich sehe, erinnern Sie sich daran.«

»Meine Frau hat mir davon geschrieben. Es stand in sämtlichen Zeitungen, schrieb sie. Lower Stovey war für eine Weile richtig berühmt!« Young Billy kicherte rau.

»Hat Ihnen davon geschrieben? Wo waren Sie denn damals?«

»Unterwegs. Auf der See.«

»Was?«, rief Markby völlig überrascht.

»Ich hab damals auf Frachtern gearbeitet. Ich hab gerne auf Frachtern gearbeitet, wissen Sie? Ich bin gerne auf See. Lizzie hat mir alles über die Geschichte geschrieben, und ich hab den Brief bekommen, als wir die Inseln über dem Winde angelaufen haben. Wir haben dort Bananen geladen. Millionen von Bananen.« Young Billy hielt inne und grübelte über jene verlorene Periode in seinem Leben.

»Ich war gern auf See, aber meiner Lizzie hat es nicht gefallen. Sie wollte nicht, dass ich so viel unterwegs bin. Als ich damals aus Lower Stovey weggegangen bin, bin ich in eine möblierte Mansarde bei Lizzies Eltern gezogen. So hab ich Lizzie kennen gelernt. Wir haben mit achtzehn geheiratet, genau wie mein Dad und meine Mum damals. Aber wir waren glücklicher als die beiden, Gott sei Dank! Wir haben inzwischen unsere Rubinhochzeit gefeiert. Nicht schlecht, wie?« Markby stimmte ihm zu, während er sich fragte, ob er und Meredith jemals ein Jubiläum feiern würden.

»Wie dem auch sei, ich hab aufgehört, zur See zu fahren, weil Lizzie es nicht mochte«, berichtete William Twelvetrees weiter.

»Ich bin an Lind gekommen und hab mir eine Arbeit im Steinbruch gesucht. Ich arbeite immer noch im Steinbruch, als Nachtwächter, aber nicht mehr Vollzeit heutzutage. Es macht mir nichts aus. Dadurch hab ich mehr Zeit für meinen Garten.« Während seiner Zeit auf See hatte Young Billy wahrscheinlich gelernt, wie man Dinge ordentlich in beengten Räumen verstaut. Vielleicht erklärte das seine geniale Ausnutzung des winzigen Gartens. Und es eliminierte ihn als Tatverdächtigen im Fall des Kartoffelmanns.

»Das wäre alles«, sagte Markby schwer.

»Ich danke Ihnen. Ich überlasse Sie jetzt wieder Ihrem Garten.« Zwei Schritte vor, ein Schritt zurück. Trotzdem war er irgendwie auf der richtigen Fährte, das spürte er im Blut. Er konnte nur noch nicht sehen, wohin sie führte. Es würde schwierig werden, doch er musste erneut mit Linda Jones reden.

Der Zug schaukelte langsam aus London heraus. Meredith saß eingequetscht in einer Ecke neben einem verschwitzten jungen Mann, der in einem Taschenbuch las. Die Umschlagillustration zeigte Menschen in einer mystischen Vergangenheit, als Kleidung entweder aus Lumpen oder kunstvollen Rüstungen bestanden und es noch keine schicke Freizeitmode gegeben hatte. Der junge Mann las Kaugummi kauend in seinem Buch und atmete gleichzeitig durch den Mund, kein leichtes Unterfangen. Meredith hatte versucht, ihn zu ignorieren und sich auf das Kreuzworträtsel in ihrem Evening Standard zu konzentrieren, doch das erwies sich als unmöglich, weil sie die Arme nicht bewegen konnte. Genauso wenig wie die Beine, die zwischen der Außenwand des Zuges und den riesigen Stiefeln einer langbeinigen, energisch aussehenden jungen Frau gefangen waren. Die junge Frau las ebenfalls, Captain Corelli’s Mandolin. Der vierte Insasse des kleinen Sitzquartetts war ein Mann mittleren Alters in Geschäftskleidung, der in dem Moment eingeschlafen war, in dem der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte.

Wenigstens war wieder einmal Freitag. Das Wochenende war gekommen, noch bevor das letzte so richtig aus den Gedanken verschwunden war. Zumindest bedeutete es zwei Tage ohne Zugfahren. Was machten diese Leute wohl alle an ihren Wochenenden?, sinnierte Meredith müßig. Was machte die Amazone mit dem Hang zur Romantik? Und was machte der Kaugummi kauende Bursche? Er trug einen Ehering, also war davon auszugehen, dass er zumindest einen Teil des Wochenendes mit den wöchentlichen Einkäufen der Familie verbringen würde. Was den Typen im Geschäftsanzug anging, dessen Kopf schlaff an der Schulter der jungen Frau ruhte, wahrscheinlich plante er eine Runde Golf mit irgendwelchen Geschäftsfreunden. Und ich?, dachte Meredith. Fragt sich keiner von den anderen, was ich während dieser kostbaren zwei Tage der Freiheit unternehme? Der eingeschränkten Freiheit. Ich werde mir wahrscheinlich zusammen mit Alan weitere wenig einladende Häuser ansehen, und wir werden beide von Minute zu Minute gereizter sein. Sie stieß einen Seufzer aus. In diesem Augenblick meldete sich ihr Mobiltelefon mit einer hektischen Interpretation der einleitenden Töne von Eine kleine Nachtmusik.

Meredith kramte in ihrer Handtasche und zog das Gerät hervor. Überall im Waggon hatten Mobiltelefone gesummt, seit der Zug losgefahren war, doch ihres verursachte ein gewisses Maß an Unruhe bei ihren unmittelbaren Sitznachbarn. Die junge Frau bemerkte den Kopf des Geschäftsmannes an ihrer Schulter und stieß ihn von sich. Er wachte verärgert auf und erhob sich, um seinen Mantel aus dem Gepäckfach über den Sitzen zu holen. Der Kaugummikauer steckte sein Buch ein und wurde gleichermaßen aktiv, woraus Meredith schloss, dass er beim nächsten Halt aussteigen würde.

»Hallo?«, fragte Meredith in ihr Telefon.

Es war Ruth Aston, zu Merediths gelinder Überraschung, bevor ihr einfiel, dass sie Ruth ihre Mobilnummer gegeben hatte, als sie und Alan Ruth auf The Old Forge besucht hatten.

»Rufen Sie mich an, wenn Sie jemanden zum Reden brauchen«, hatte sie zu Ruth gesagt, und Ruth hatte sie beim Wort genommen.

»Ich habe nachgedacht, Meredith«, begann Ruth.

»Ich schätze, Sie und Alan haben Pläne für das Wochenende, aber falls Sie ein wenig Zeit finden, würden Sie morgen zum Tee vorbeikommen? Die Sache ist die, Hester hat eine Menge Kekse gebacken, die in der Kühltruhe liegen. Ich kann sie unmöglich alleine essen. Ich kann sie nicht wegwerfen. Ich hab ein paar weggeschenkt, aber ich fühle mich schuldig. Deswegen dachte ich, wenn Sie und Alan vielleicht eine Stunde oder so Zeit hätten, gegen halb vier, vier?«

Ruths Stimme verstummte hoffnungsvoll. Meredith war die unterschwellige Verzweiflung nicht entgangen. Ruth hatte wieder einmal allein vor sich hingeweint wegen Hester, vermutete sie. Sie brauchte dringend Gesellschaft.

»Selbstverständlich kommen wir«, sagte Meredith.

»Oder jedenfalls ich komme. Ich weiß nicht, was Alan vorhat; ich muss erst mit ihm reden.«

Ruth bedankte sich so überschwänglich, dass Meredith verlegen wurde.

»Ich konnte nicht Nein sagen. Ich hab ihr schließlich gesagt, dass sie mich anrufen soll«, erzählte Meredith und drehte den Kopf in seiner Armbeuge, um zu Markby aufzublicken. Sein Kopf ruhte an der Rückenlehne des Sofas, und er hatte die Augen geschlossen.

»Kein Problem«, murmelte er.

»Ich muss sowieso noch mal raus nach Lower Stovey, und wann ist eigentlich egal. Ich muss zur Greenjack Farm und etwas nachprüfen. Ich könnte dich um halb vier bei Ruth absetzen. Dann würde ich weiter zur Farm fahren und zu euch stoßen, sobald ich fertig bin. Es sollte nicht allzu lange dauern.«

»Ruth erwartet möglicherweise, dass du ihr über irgendwelche Fortschritte berichtest«, sagte Meredith zögernd.

»Wie weit ist Pearce mit seinen Ermittlungen?«

Alan schlug die Augen auf und sah sie an.

»Er kommt nur langsam voran. Aber wenigstens James Holland hat Grund zur Freude.«

»Dann hast du also den verschwundenen Turmschlüssel gefunden?« Sie stockte, dann fügte sie hastig hinzu:

»Oder darf ich nichts davon wissen? James hat es mir erzählt.«

»Ich habe ihm nicht gesagt, dass er nicht darüber reden darf. Ganz im Gegenteil – ich hab ihn gebeten, überall nachzuhorchen, ob jemand etwas über den Schlüssel weiß. Bestimmt weiß halb Bamford Bescheid. Letzten Endes haben wir einen kompletten Schlüsselsatz für sämtliche Türen der Kirche ausgegraben, dessen Existenz bei der Diözese komplett in Vergessenheit geraten war.«

»Und wer hatte sie?«

»Das wirst du nicht glauben! Norman Stubbings, der Wirt des Fitzroy Arms. Wie es scheint, ist er so eine Art lokaler Don Juan, und er hatte die Angewohnheit, seine Eroberungen mit nach oben in den Kirchturm zu nehmen, um sich dort zu vergnügen.«

»Der Gedanke macht mir eine Gänsehaut«, sagte Meredith.

»Nicht der Gedanke an den Kirchturm, vielmehr der an Normans amouröse Umarmung. Na ja, Turm und Norman, beides zusammen. Stell dir vor, wie er dort oben herumschleicht wie Quasimodo. Dieser Kerl war mir von Anfang an nicht ganz geheuer. Meinst du, dass er vielleicht etwas mit dem Tod von Hester Millar zu tun hat?«

»Er besitzt kein Motiv, und ich kann ihm nicht nachweisen, dass er zur fraglichen Zeit in der Kirche war.« Markby kicherte.

»Er hat einen Riesenschrecken bekommen, als Dave bei ihm aufgetaucht ist, die Schlüssel verlangt und gedroht hat, ihn wegen Unterschlagung von Beweisen zu belangen. Er war so zahm wie ein Lamm und hat sie ohne Murren herausgerückt. Seine Frau, eine kleine dicke Frau …«

»Evie«, informierte Meredith ihn.

»Evie also. Evie tanzte ständig um sie herum und beharrte darauf, dass Norman an jenem Morgen unmöglich in der Kirche gewesen sein kann, an dem Hester starb, weil er seit neun Uhr fast eine Stunde lang mit der Brauerei telefoniert hat. Dave hat es überprüft, und es entspricht der Wahrheit. Anschließend musste Stubbings offensichtlich eine der Bierpumpen reparieren. Er hat die Bar nicht verlassen.«

»Er hat irgendwas in der Richtung zu mir gesagt, nicht am Tag von Hesters Ermordung, sondern am Samstag, als ich in seinem Pub war, nachdem ich Ruth besucht hatte. Kurz bevor er mich mehr oder weniger rausgeworfen hat.« Es widerstrebte Meredith, Normans Geschichte zu unterstützen, doch sie hatte ein starkes Gefühl für Gerechtigkeit und Fairness.

»Er hat einen Zeugen für den fraglichen Tag. Eine Freundin von Evie war auf ein Schwätzchen im Pub und hat ihn an den Pumpen arbeiten sehen. Es scheint, er war ziemlich aufgebracht und hat den Besuch mit Schimpfworten bedacht. Norman mag nicht viele Freunde haben, doch er besitzt ein Alibi. Ich bin jedenfalls froh, dass wir die Schlüssel gefunden haben und unsere Ermittlungen dadurch nicht mehr beeinträchtigt werden, auch wenn ich nie wirklich geglaubt habe, dass sie eine Spur sein könnten. Die Fußspuren im Glockenturm waren alt und staubig, doch die Verlockung ist groß, sich von so etwas auf eine falsche Fährte führen zu lassen. Ermittlungen bei schweren Verbrechen haben es so an sich, dass eine Menge kleinerer Sünden ans Licht kommen.«

»Zu schade, dass du ihn nicht wegen irgendwas verhaften kannst«, sagte Meredith melancholisch. Markby kicherte.

»Er ist weder die Zeit noch die Mühe wert, selbst wenn es uns gelingen würde, eine Anklage gegen ihn auf die Beine zu stellen. Es ist, wie ich sagte. Man wirft ein Netz aus in der Hoffnung, einen großen Fisch darin zu fangen. Wenn man eine Null wie Norman fängt, dann wirft man sie eben wieder zurück ins Wasser.«

»Er ist in den Glockenturm eingebrochen!«, bemerkte Meredith.

»Rein technisch betrachtet nicht, nein. Er hatte einen Schlüssel.«

»Aber er war nicht befugt, den Turm zu betreten!«

»Was für sich genommen kein Verbrechen darstellt.« Markby schüttelte den Kopf.

»Er hat sich dort oben vergnügt, sicher, aber er hat weder irgendwelche Dinge beschädigt, noch hat er etwas gestohlen. Wenn der Bischof eine Zivilklage gegen Norman anstrengen möchte wegen unbefugten Betretens, dann ist das seine Sache. Ich suche einen Mörder.«

»Das heißt, du bist wieder da, wo du angefangen hast?«

»Waren wir je weiter?«, entgegnete er ironisch.

»Allerdings ist Dave eine hartnäckige Sorte von Spürhund. Er hat eine Zeugin ausgegraben, die Hester auf der Straße vor der Kirche gesehen hat.« Markby runzelte die Stirn.

»Die Zeugin hat ausgesagt, Hester hätte etwas bei sich getragen. Ruth hatte den gleichen Eindruck, und vielleicht ist es die Mühe wert nachzuhaken und sie zu fragen, ob sie sich vielleicht erinnern kann, was es war?« Sie kamen überein, am nächsten Tag einmal mehr nach Lower Stovey zu fahren.

KAPITEL 14

AM NÄCHSTEN Tag, Samstagnachmittag, lenkte Markby den Wagen vor der Kirche St. Barnabas in Lower Stovey an den Straßenrand und stellte den Motor ab.

»Es wird wieder stürmisch«, beobachtete er. Meredith spähte durch die Windschutzscheibe. Die Wipfel der Bäume, die den Friedhof umgaben, bogen sich und schwankten. Das Kneipenschild des Fitzroy Arms schaukelte laut quietschend in den ungeölten Angeln. Es zeigte ein verblasstes Wappen mit einem kleinen Tier unbekannter Spezies, wahrscheinlich ein Nagetier. Irgendwie passend, dachte Meredith. Norman, der Wirt, hatte allein und bleich wie eh und je im Eingang gestanden, doch als er Markbys Wagen bemerkt hatte, war er hastig nach drinnen gehuscht.

»Sieht er nicht aus wie etwas, das man findet, wenn man einen Stein umdreht?«, fragte Meredith. Markby grinste.

»In die Mangel genommen von der Polizei und einer der Frauen aus dem Dorf, der Mutter seiner jüngsten Eroberung, hat Norman allen Grund, sich bedeckt zu halten. Ich lass dich hier raus und fahre weiter zur Farm. Sag Ruth, dass ich nachkomme, sobald ich kann.« Er sah an Meredith vorbei zur Kirche.

»Warum willst du unbedingt da rein, bevor du zu Ruth gehst?«

»Es ist nur ein Gefühl, weißt du? Ich muss hinein und mich davon überzeugen, dass alles in Ordnung ist, nur ein leeres Gebäude ohne Leichen, außer in Sarkophagen. Wenn nicht, bleibt mir das letzte Bild vom Innern dieser Kirche im Gedächtnis haften, mit Hesters zusammengesunkener Leiche auf der Bank. Und das möchte ich vermeiden, wenn ich kann.« Sie zögerte.

»Ruth hat mir erzählt, dass die Kirche quasi als Sühne für einen Mord gebaut worden ist, und es ist beinahe, als würde sich die Geschichte wiederholen. Man kann irgendwie nicht anders, man kriegt ein merkwürdiges Gefühl, wenn man dort rumläuft, gleichgültig, ob draußen oder drinnen. Drinnen starren einen all die steinernen Fitzroys an, und draußen lauert der Grüne Mann hoch oben an der Wand. Was meinst du, was haben die mittelalterlichen Steinmetze geglaubt, was sich draußen in den Wäldern herumtreibt?«

»Ich habe keine Ahnung, was sie geglaubt haben«, entgegnete Markby ein wenig missmutig.

»Soweit es mich betrifft, ist es menschlich, was auch immer sich dort herumgetrieben hat oder noch herumtreibt.« Und selbst ich habe Augenblicke, dachte er, in denen ich daran zweifle, wenn ich ehrlich bin. Aberglaube hat tiefe Wurzeln. Wir alle tun, als würden wir nicht davon beeinflusst, und doch fürchten wir uns alle ein ganz klein wenig vor dem, was wir nicht wissen. Meredith hatte die Wagentür geöffnet und schwang ihre Beine nach draußen. Als sie ausgestiegen war, ließ er den Motor wieder an und fuhr in Richtung Stovey Woods davon. Im Rückspiegel sah er sie neben dem Friedhofstor stehen, wo sie ihm hinterherblickte. Ein kurzes Stück vor dem Ende der Straße am Rand von Stovey Woods erreichte er ein Holzschild mit dem eingebrannten Namen Greenjack Farm an einer Einfahrt auf der rechten Seite. Auf der Weide hinter dem Schild lag Vieh träge auf der Wiese und käute wieder. Der Volksmund war überzeugt, dass das Regen bedeutete. Markby warf einen abschätzenden Blick hinauf zum Himmel, während er das kurze Stück Feldweg bis zum Tor der Farm zurücklegte. Zweiundzwanzig Jahre. War es wirklich schon so lange her? Was war in der Zwischenzeit geschehen? Er hatte geheiratet und war geschieden worden. Er war bis zum Superintendent befördert worden. Er war niemals Vater geworden, doch er war – dank der Anstrengungen seiner Schwester und ihres Mannes – Onkel von vier Kindern. Er hatte Meredith kennen gelernt, etwas, das ihn immer noch mit Staunen erfüllte, als ein Mann, der unerwartet – und unverdient – eine zweite Chance erhalten hatte. Warum also konnte er, wo das Leben doch so entschieden weiterging und sich ständig neue Horizonte öffneten, nicht von diesem alten Rätsel ablassen?

»Weil«, sagte er leise zu sich selbst,

»weil ich auf gewisse Weise, die ich nicht recht zu begreifen vermag, glaube, dass es etwas mit dem Tod von Hester Millar zu tun hat. Weil ich spüre, dass ich dicht davorstehe, das Rätsel zu lösen. Dass ich es im Unterbewusstsein vielleicht sogar bereits gelöst habe.« Und jener andere Tote? Simon Hastings? Ganz zu schweigen vom Gefühl des Versagens, das ihm all die Jahre zu schaffen gemacht hatte. Würde er den Tod von Hastings je aufklären oder dieses Gefühl jemals loswerden? Er stieg aus dem Wagen, stieß das Tor auf und ging hindurch, um es hinter sich sorgfältig wieder zu schließen. Ein schwarzweißer Border-Collie kam ihm bellend, doch nicht aggressiv, entgegengerannt.

»Hallo, alter Freund«, sagte Markby, und der Hund wedelte freudig mit dem Schwanz und begleitete ihn, rannte Kreise um ihn, während Markby seinen Weg zum Wohnhaus fortsetzte. In einem ehemaligen Stall zur Rechten bemerkte Markby ein Geräusch. Die Türen der letzten Box waren entfernt worden und ein Teil der Stallmauer herausgeschlagen, um die Öffnung zu verbreitern. Von dort hörte Markby ein deutliches, in kurzen Abständen sich wiederholendes Rasseln und eine Stimme, die angestrengte Laute von sich gab. Neugierig geworden steckte Markby den Kopf durch das Tor. Im Innern des Stalles herrschte Dämmerlicht, und er brauchte einen Augenblick, bis er sich daran gewöhnt hatte. In der Ecke lagen alte Strohballen, und eine Heutraufe diente offensichtlich als Behälter für Abfall. Von der Decke baumelten dicke Spinnweben. Den Ehrenplatz in der Sammlung nahm ein viktorianischer Einspänner ein, dessen Deichsel auf dem Boden ruhte. Früher einmal war er blau und rot gestrichen gewesen, doch die Farbe war lange abgeblättert und stumpf, auch wenn das Gefährt sauber war. Irgendjemand arbeitete daran, wohl in dem Bemühen, es noch mehr auf Vordermann zu bringen. Es war ein alter Mann, der langsam, doch beharrlich zu Werke ging, ein Tuch in einer Hand, deren Knöchel von Arthritis gezeichnet waren. Er blickte auf, als Markbys Schatten die Öffnung zum Hof ausfüllte, und richtete sich mühsam auf, während er eine weitere leise Verwünschung murmelte. Markby, dem bewusst wurde, dass der alte Mann nichts außer einer dunklen bedrohlichen Silhouette von ihm erkennen konnte, trat einen Schritt vor und zur Seite, sodass er richtig zu sehen war.

»Guten Tag«, sagte Markby. Der alte Mann stand schweigend da, den Lappen in der Hand, und betrachtete Markby sinnierend.

»Ich hab Sie schon mal gesehen«, sagte er nach einer Weile. Er kicherte und schüttelte den Lappen in Markbys Richtung.

»Ja, ich kenne Sie. Ich hab Sie schon mal gesehen.«

»Das haben Sie, Mr. Jones, allerdings ist es schon eine ganze Weile her, viele Jahre sogar. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie sich noch an mich erinnern würden.« Martin Jones kam Markby entgegen, den Kopf zur Seite geneigt, und musterte den Neuankömmling aus verblassten Augen.

»An Ihren Namen kann ich mich allerdings nicht mehr erinnern. Den müssen Sie mir schon verraten.« Markby stellte sich vor und fügte hinzu:

»Es ist zweiundzwanzig Jahre her, dass ich bei Ihnen war und mich nach dem Kartoffelmann erkundigt habe.« Der alte Jones stieß einen lang gezogenen Seufzer aus.

»Dann suchen Sie diesen Kerl immer noch?«

»Ja. Und den Mörder von Hester Millar.« Verblüffung zeichnete sich auf dem Gesicht des Alten ab.

»Hester Millar? Nie gehört.«

»Sie hat in Lower Stovey gewohnt, zusammen mit Ruth Aston. Mrs. Aston hieß früher Pattinson und war die Tochter des alten Vikars.«

»Ich erinnere mich an die junge Miss Pattinson. Sie war ein ziemlich hübsches Ding. Aber sie wohnt längst nicht mehr in Lower Stovey.«

»Doch, Mr. Jones, das tut sie. Nur, dass sie heute Mrs. Aston ist. Miss Millar war ihre Freundin, und sie ist gestorben. Ermordet in der Kirche hier im Dorf.« Er war nicht sicher, ob es richtig war, gegenüber Martin Jones über den Tod zu sprechen. Durchaus möglich, dass sein Sohn beschlossen hatte, den alten Mann nicht unnötig aufzuregen mit den schlimmen Neuigkeiten. Doch die Vorstellung von Mord und Tod schien Martin Jones weniger auszumachen als die Tatsache, dass das blutige Verbrechen ausgerechnet in der geweihten Kirche begangen worden war.

»Es ist nicht richtig!« Martin Jones wedelte mit dem Lappen hin und her, als würde er einen Fleck wegwischen.

»Ein Mord an einer Frau, und ausgerechnet in einer Kirche!« Er wirkte plötzlich völlig am Boden zerstört. Markby beschloss ein Ablenkungsmanöver und trat zu dem alten Einspänner.

»Wollen Sie damit eine Ausfahrt unternehmen?«, fragte er. Martin Jones wurde augenblicklich wieder munter, und die Tote in der Kirche war aus seinen Gedanken gewischt.

»Nein. Das einzige Pony auf der Farm heutzutage gehört der kleinen Becky, und es ist ein Reittier. Zwischen den Deichselstangen würde es höchstwahrscheinlich durchgehen. Trotzdem, es ist ein guter Wagen. Ich habe mich entschlossen, ihn zu verkaufen. Man weiß ja nie, vielleicht interessiert sich jemand dafür.« Er rieb mit dem Lappen über das ihm am nächsten stehende Rad. Dann drehte er den Kopf in Markbys Richtung.

»Becky ist meine Enkeltochter«, fügte er erklärend hinzu.

»Sie haben auch einen Enkelsohn, wenn ich mich nicht irre? Gordon?« Martin Jones runzelte die Stirn.

»Hab ihn schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.«

»War er nicht vor ein paar Tagen auf der Farm? Mit dem Motorrad?«

»Schon möglich. Die Tage erscheinen mir heute alle gleich, wissen Sie.« Er blinzelte Markby an.

»Ich erinnere mich an Sie. Sie sehen noch ganz genauso aus wie früher, wissen Sie? Einige Leute verändern sich. Ich erinnere mich an den Kartoffelmann und alle möglichen Dinge, die damals passiert sind. Aber ich kann mir irgendwie nichts mehr merken, was heutzutage passiert, wie mir scheint.« Er runzelte die Stirn, und als wäre eine bestimmte Zeitspanne erforderlich, um eine Frage zu verarbeiten und sich darauf zu konzentrieren, fuhr er fort:

»Das ist ein lärmendes Ding, dieses Motorrad. Als ich in seinem Alter war, bin ich mit diesem Einspänner hier nach Bamford gefahren. Ich hab kein Motorrad gebraucht. Kevin mag dieses Motorrad ebenfalls nicht. Er mag es nicht, wenn Gordon damit angebraust kommt, wenn draußen auf dem Hof Vieh rumläuft.«

»Wo ist Kevin jetzt?«, fragte Markby. Der Alte schüttelte den Kopf.

»Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nicht, ihn heute schon gesehen zu haben. Wahrscheinlich ist er irgendwo auf der Farm.«

»Was ist mit Mrs. Jones? Mit Linda?« Das alte Gesicht leuchtete auf.

»Sie ist eine gute Frau. Sie ist drüben im Haus, denke ich.« Er wandte sich erneut dem Einspänner zu.

»Man kann nie wissen, vielleicht will ja irgendjemand einen guten Wagen wie den hier, hm? Was meinen Sie?« Markby antwortete entschuldigend, dass er den Einspänner nicht wollte. Der alte Mann nickte und wandte sich wieder dem Polieren zu. Wie es schien, war die Unterhaltung beendet.

»Nett, Sie mal wieder gesehen zu haben«, sagte Markby zu ihm, doch er erhielt keine Antwort. Falls Mrs. Jones im Haus war, dann sicher in der Küche. Markby ging zur Hintertür, und wie er es sich gedacht hatte, stand sie offen, und im Halbdunkel dahinter bewegte sich die geschäftige Gestalt einer Frau hin und her. Er klopfte an, und sie blickte überrascht auf.

»Superintendent Markby!«, sagte er hastig und hielt ihr seinen Ausweis hin. Sie kam ihm entgegen, während sie sich die Hände an einer kleinen Schürze abwischte, und Markby erkannte, dass sie damit beschäftigt gewesen war, Gebäck zu machen.

»Nicht noch einer!«, sagte sie, nicht grob, sondern in gelindem Erstaunen.

»Ich hatte erst einen Ihrer Kollegen hier, vor ein paar Tagen.«

»Ja. Das war Inspector Pearce. Darf ich auf ein paar Worte hereinkommen, Mrs. Jones?« Sie zuckte die Schultern.

»Meinetwegen. Ich weiß zwar nicht, was Sie noch von mir wissen wollen; ich hab dem anderen alles erzählt, was ich weiß. Ich hab die arme Hester Millar gesehen, als ich an der Kirche vorbeigefahren bin, das ist alles. Ich hab nicht gesehen, wohin sie gegangen ist. Ich hatte andere Dinge im Kopf. Ich wünschte, ich hätte angehalten und ein paar Worte mit ihr gewechselt. Man weiß ja nie, vielleicht hätte es irgendwie einen Unterschied gemacht. Andererseits vielleicht auch nicht. Das lässt sich im Nachhinein nicht mehr feststellen, nicht wahr?« Sie deutete mit einer mehlweißen Hand auf einen Küchenstuhl.

»Nehmen Sie doch Platz, Mr. Markby.« Markby gehorchte, und sie kehrte an den Tisch zurück und rollte weiter Teig für ihr Gebäck aus.

»Ich mache ein paar Brötchen und Käseteilchen«, erklärte sie.

»Diese Art von Sachen.«

»Für die Party Ihres Sohnes?«, erkundigte sich Markby. Sie reagierte verblüfft.

»Woher wissen Sie davon? Oh, richtig, Gordon kam ja gerade hinzu, als Ihr Inspector zu Besuch war. Ja, für seine Party. Gordon wollte alles im Geschäft kaufen, aber ich mag keine Brötchen und keinen Kuchen aus der Bäckerei. Ich habe den Kuchen auch selbst gebacken.« Sie deutete stolz auf den kleinen Küchenschrank, auf dem ein großer Fruchtkuchen stand.

»Ich muss ihn noch dekorieren«, erklärte sie.

»Ich werde in der Mitte aus Baiser eine Einundzwanzig machen und ›Happy Birthday Gordon‹ drum herumschreiben.«

»Sehr hübsch, ich muss schon sagen.« Markby stockte, dann fuhr er fort:

»Ich habe Ihren Schwiegervater draußen in der Scheune getroffen. Er putzt einen alten Einspänner, der dort steht.« Sie schnalzte mit der Zunge.

»Das alte Ding. Er ist ständig in der Scheune und bastelt daran herum. Es hält ihn beschäftigt, wissen Sie? Hat er versucht, Ihnen den Einspänner zu verkaufen?«

»Eigentlich nicht, nein. Er hat lediglich gefragt, ob ich jemanden kenne, der einen Wagen braucht, wie er es nannte.« Sie lachte.

»Er versucht ständig, ihn irgendjemandem zu verkaufen. Er ist nicht mehr, Sie wissen schon …« Sie tippte sich an die Schläfe.

»Nicht verrückt, nein, aber auch nicht mehr ganz klar im Oberstübchen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sein Verstand funktioniert auf seine eigene Weise.«

»Ich verstehe. Allerdings hat er sich an mich erinnert.« Sie unterbrach das Teigrollen, legte die Hände flach auf den Tisch und musterte ihn nachdenklich.

»Sie waren schon einmal hier? Ich erinnere mich gar nicht an Sie.«

»Es war vor zweiundzwanzig Jahren.« Der gleichmütige Blick verschwand, und sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Sie nahm ein Messer zur Hand und schnitt ein Quadrat aus dem runden Teigfladen.

»Das überrascht mich«, sagte sie mit leiser Stimme.

»Er erinnert sich sonst an kaum etwas.«

»Er erinnert sich besser an die Dinge, die sich vor langer Zeit ereignet haben, als an die Ereignisse der letzten Woche«, sagte Markby.

»Er wusste sogar noch, warum ich damals hier war. Wir haben wegen der Übergriffe auf Frauen in der Gegend von Stovey Woods ermittelt. Der Kartoffelmann. Erinnern Sie sich an diese Geschichte, Mrs. Jones?« Die Hand mit dem Küchenmesser zitterte.

»Kaum. Sind Sie deswegen hergekommen, nach all den Jahren? Haben Sie nicht genug mit dem Mord an Hester Millar zu tun?« Ihre Stimme klang mit einem Mal harsch.

»Sicher haben wir genug damit zu tun. Doch manchmal führt eine Sache zur anderen, und es kann Jahre dauern, bis man die Zusammenhänge erkennt. Sie erinnern sich also an den Kartoffelmann, nicht wahr?« Sie legte das Messer beiseite und ließ sich in einen Küchenstuhl fallen. Der Holzstuhl scharrte laut über die Steinfliesen.

»Ich war damals noch ein junges Mädchen. Gerade erst siebzehn.«

»Waren Sie bereits mit Kevin Jones befreundet damals oder vielleicht sogar verlobt? Ich habe ihn damals ebenfalls kennen gelernt. Ich glaube mich zu erinnern, dass er noch nicht verheiratet gewesen ist.«

»Wir haben uns getroffen.« Ihre Worte waren beinahe unhörbar.

»Und Sie haben kurze Zeit später geheiratet?« Sie hob den Blick, sah ihn kurz an und senkte ihn wieder.

»Ich dachte von Anfang an«, sagte Markby sanft,

»dass der Vergewaltiger ein Einheimischer sein muss. Ich war außerdem überzeugt, dass es mehr Vergewaltigungen gegeben hat, als uns damals gemeldet wurden.«

»Glauben Sie das immer noch?«, fragte sie dumpf und unternahm einen sichtbaren Versuch, sich zusammenzureißen.

»Ich bin mir da gar nicht so sicher.« Markby beugte sich vor und legte die verschränkten Hände auf die Tischplatte.

»Wissen Sie, es ist wirklich eigenartig«, sagte er wie beiläufig.

»Aber viele Zeugen melden sich nicht, weil er oder sie glauben, dass das, was sie wissen, nicht von Bedeutung ist. Oder weil sie denken, nichts zu wissen. Und doch ist es erstaunlich, an was sich diese Leute alles erinnern, wenn wir sie finden und mit ihnen reden.« Linda Jones antwortete nicht, und Markby fuhr fort:

»Ich will keinen alten Schmerz aufrühren, Mrs. Jones. Ich habe nicht vor, mit dem, was ich weiß, an die Öffentlichkeit zu gehen. Doch ich glaube immer noch, dass er hier in Lower Stovey lebt, und ich bin immer noch entschlossen, ihn der Gerechtigkeit zuzuführen.« Irgendetwas in seiner Stimme, eine Andeutung stählerner Härte, schien sie zu verängstigen, und sie blickte auf, mit zur Seite gewandtem Kopf wie ein scheuendes Tier.

»Erschrecken Sie nicht«, beschwor er sie.

»Wie ich bereits sagte, ich habe nicht vor, irgendetwas davon in der Öffentlichkeit verlauten zu lassen. Aber eben haben Sie selbst gesagt, Sie wünschten, Sie hätten mit Hester Millar gesprochen an jenem Morgen, als Sie ihr begegnet sind. Sie haben gesagt, dass es möglicherweise einen Unterschied gemacht hätte, möglicherweise aber auch nicht. Es war richtig von Ihnen, damit zur Polizei zu gehen. Weil die Frage, ob es einen Unterschied gemacht hätte, etwas ist, was die ermittelnden Beamten herausfinden werden. Es gibt so viele Zeugen …«, sagte Markby mit einem freundlichen Lächeln,

»… die versuchen vorauszusehen, was wir denken. Die uns erzählen, wovon sie glauben, dass wir es wissen wollen, und die Dinge weglassen, von denen sie denken, sie wären nicht so wichtig.«

»Wenn es noch andere Frauen gegeben hat, die von diesem Kerl angegriffen wurden«, sagte Linda Jones ganz leise,

»Frauen, die sich nie bei der Polizei gemeldet haben, dann liegt das nur daran, dass sie mehr als zwanzig Jahre damit verbracht haben, ihre Erinnerung zu begraben. Sie wären nicht mehr im Stande, Ihnen irgendetwas zu erzählen. Keine von ihnen hat sein Gesicht gesehen. Sie haben nichts weiter gehört als ein paar schnelle Schritte, einen Atemzug und dann diesen grässlichen, nach Erde riechenden Sack …« Sie schlug die Hände vors Gesicht, doch nach einem Augenblick nahm sie sie wieder herunter und sah Markby an.

»Mr. Markby«, begann sie mit zittriger und trotzdem entschlossen klingender Stimme,

»Mr. Markby, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Ich … ich wünschte, Sie würden nicht immer noch nach ihm suchen, und ich kann nicht sagen, dass ich hoffe, Sie finden ihn. Es führt zu nichts, außer, dass altes Leid aufgewühlt wird und alte Erinnerungen, die niemand mehr haben will. Diese Frauen, die sich nicht an die Polizei gewandt haben – sie hatten sicherlich ihre Gründe. Vielleicht hatten sie einen jungen Mann kennen gelernt, mit dem sie zusammenbleiben wollten, und vielleicht hatten sie Angst, er könnte sie nicht mehr haben wollen, wenn sie auf diese Weise beschmutzt worden waren …« Er hatte sie nicht unterbrechen wollen, nachdem sie endlich angefangen hatte zu reden, doch er rief trotzdem unwillkürlich:

»Es war doch nicht ihre Schuld! Die Frauen haben doch überhaupt nichts getan!«

»Spielt das eine Rolle?«, fragte sie leise.

»Das Ergebnis ist das Gleiche. Vielleicht haben ihre Familien ihnen gesagt, dass es in den Wäldern nicht sicher ist und dass sie sich fern halten sollen. Vielleicht sind sie trotzdem hingegangen und hatten hinterher Angst, sich ihren Eltern anzuvertrauen. Man hätte ihnen vorgeworfen, dass sie ungehorsam gewesen waren. Die Familie hätte gesagt, dass das Mädchen es sich selbst zuzuschreiben hätte.« Ihr Blick begegnete flüchtig dem von Markby.

»Es gibt keinen Ausweg«, sagte sie leise.

»Nicht, wenn man in einem so kleinen Dorf wohnt wie diesem hier. Schlauberger aus der Stadt erzählen vielleicht etwas anderes, aber hier, und ganz bestimmt vor zweiundzwanzig Jahren, kannten wir alle einander sehr gut. Wir haben Tür an Tür gelebt. Niemand wollte glauben, dass einer von uns … dass einer aus dem Dorf etwas so Verwerfliches tun könnte, nicht hier in Lower Stovey, also mussten die Leute denken, dass es irgendwie die Schuld der Opfer war, verstehen Sie denn nicht?« Er verstand nur zu gut. Nach einer kurzen Pause sagte er:

»Der junge Mann, der Freund dieser jungen Frau, den Sie erwähnt haben – wäre es möglich, dass er sich hat denken können, was passiert war?« Sie lächelte gezwungen.

»O ja, das wäre durchaus möglich. Und vielleicht hat er auch gesagt, solange es niemand anders erfährt, würde er auch nie wieder darüber sprechen und ich … das junge Mädchen würde ebenfalls nicht mehr davon reden, und die ganze Sache würde in Vergessenheit geraten.«

»Und?«, fragte Markby.

»Ist sie das?«

»Nein«, sagte Mrs. Jones leise.

»Wissen ist wie eine Art Geschwulst. Wie ein Pilz in altem Holz. Er breitet sich immer weiter aus und stinkt immer mehr, und man kann überhaupt nichts dagegen unternehmen, weil man sich einverstanden erklärt hat, so zu tun, als existierte er überhaupt nicht. Nach einer Weile kann man nicht einmal mehr darüber sprechen, doch man ist sich seiner bewusst, man ist sich dessen ständig bewusst und vergisst es nicht eine Sekunde lang. Ich kann nicht darüber sprechen, Superintendent. Ich rede niemals darüber.« Markbys Blick wanderte zu dem Geburtstagskuchen.

»O ja«, sagte sie.

»Es ist möglich. Ich weiß es nicht mit Sicherheit, genauso wenig wie Kevin. Verstehen Sie, wir haben uns damals schon getroffen, und wir … na ja, wir wollten sowieso heiraten, sobald ich achtzehn geworden war, also haben wir es bereits getan, wenn Sie verstehen.«

»Das ist also eine weitere Sache zwischen Ihnen beiden, über die Sie niemals sprechen?« Sie schenkte ihm ihr trauriges Lächeln.

»Wie könnten wir, heute?« Markby erhob sich.

»Es tut mir wirklich Leid, dass ich Sie belästigen musste.« Er zögerte.

»Es ist nur, der Kartoffelmann geht mir seit nunmehr über zwanzig Jahren nicht aus dem Kopf. Ich habe ihn nicht einen Augenblick lang vergessen. Ich habe ihn damals nicht gefunden. Das ist mir nicht gleichgültig. Weil ich ihn nach der ersten gemeldeten Vergewaltigung nicht dingfest gemacht habe, nach dem Angriff auf Mavis Cotter, wurden andere Frauen seine Opfer. Es lastet auf meinem Gewissen, wenn Sie so wollen. Es verfolgt mich und lässt mir keine Ruhe. Ich folge jedem noch so kleinen Hinweis, selbst heute noch. Auf Wiedersehen, Mrs. Jones.« Als er die Tür erreichte, meinte er, ein unterdrücktes Geräusch hinter sich zu hören, als hätte sie etwas gesagt, und er drehte sich um. Sie hatte Hackfleisch aus einer Schale genommen und rollte es zu einer langen Wurst aus. Ohne zu ihm aufzublicken sagte sie:

»Er hatte die Hände eines Arbeiters.«

»Sind Sie sicher?«

»O ja. Und es waren nicht die Hände eines jungen Mannes, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er hatte Schwielen von vielen Jahren harter Arbeit.« Der alte Martin Jones war immer noch in der Scheune, als Markby vorbeikam, doch er ging nicht mehr hinein. Er verspürte nicht den Wunsch, einen Einspänner zu kaufen. Er stieg in seinen Wagen und fuhr langsam über die Zufahrt zur Straße zurück. Doch anstatt nach links in Richtung Lower Stovey abzubiegen, wandte er sich nach rechts und fuhr die verbleibenden zweihundert Meter bis zu der Stelle, wo die Straße dicht vor dem Wald endete. Er stellte den Motor ab, lehnte sich zurück und starrte durch die Windschutzscheibe nach draußen auf die dunkle Masse von Bäumen, die im Wind schwankten. Meredith war inzwischen sicherlich bei Ruth, und die beiden Frauen warteten auf ihn. Er verspürte keine Lust auf Tee und Gebäck und Unterhaltung. Er war vom Wald angezogen worden. Vom Wald und seinen Geheimnissen, und deswegen war er hierher gefahren. Er hatte Recht gehabt. Er hatte am Tag von Hesters Tod die erste Ahnung gehabt, und seine Überzeugung war von Tag zu Tag stärker geworden, lediglich die Details waren noch verschwommen gewesen. Was ihm fehlte, war ein Beweis. Irgendein Beweis. Würde er ihn jemals finden? Was war schlimmer? Es nicht zu wissen, oder zu glauben, es zu wissen, und es nicht beweisen zu können? Und warum Hester? Wenn jemand hatte sterben müssen, wieso dann nicht Ruth Aston, geborene Pattinson, die Einheimische? Markby stieg aus dem Wagen, warf die Tür zu und ging zum Zauntritt. Er kletterte hinüber und sprang auf der anderen Seite herunter auf den feuchten Erdboden. Er sog prüfend die Luft ein und konnte den herannahenden Regen riechen. Der Lärm des Windes in den Bäumen war inzwischen so laut geworden, dass es klang wie eine wütende Kreatur, die durch den Wald streifte. Markby musste den Gedanken mit Gewalt verdrängen, und mit einer ironischen Grimasse fielen ihm seine Worte an Meredith ein, dass, wer oder was auch immer im Wald lauerte, von Anfang an immer nur ein Mensch gewesen war und sonst nichts. Markby schlug den Kragen seiner Jacke hoch und marschierte los, über den schmalen Pfad zwischen den Bäumen hindurch.

Nachdem Alans Wagen außer Sicht verschwunden war, wandte sich Meredith dem Friedhofstor zu, durchquerte es und ging zum Eingang der Kirche. Er war unverschlossen. Ruth war also am Morgen da gewesen und hatte aufgeschlossen. Ruth war eine mutige Frau. Bevor sie die Stufen zur Veranda hinaufstieg, drehte Meredith den Kopf und blickte zurück zum Fitzroy Arms, dem Pub von Norman Stubbings. Heute stand niemand vor der Tür und beobachtete sie, auch wenn sie sich einbildete, hinter den Vorhängen eine Bewegung entdeckt zu haben. Sie bezweifelte nicht, dass sie beobachtet wurde und dass jemand einen weiteren Minuspunkt auf ihrem Konto notierte.

Sie öffnete die Drahttür und stieg die wenigen Stufen in die alte Kirche hinunter. Es war kühl hier drin und roch ein wenig nach Moder, der Geruch nach Staub in alten Stoffvorhängen und Wandteppichen und auf hohen Simsen und Absätzen, die Ruths Staubwedel nicht zu erreichen im Stande war. An der Stelle, wo Meredith die Leiche von Hester Millar gefunden hatte, hatte jemand Blumen in eine Vase gestellt. Hesters Ermordung würde ein Teil der Geschichte dieser Kirche werden, die noch viele Jahre lang jeder Besucher zu hören bekäme, der seinen Fuß in Lower Stovey setzte.

Die Monumente der Fitzroys in all ihrer Pracht sahen verloren und vergessen aus, Relikte aus einer vergangenen Zeit und von einem anderen Ort. Sie erinnerten Meredith an Shelley’s Ozymandias mit ihrer Prahlerei von einer verlorenen Größe und Erhabenheit. Nichts hält ewig, dachte Meredith, weder ein großer Name noch Reichtum, noch ein soziales System, welches den Großgrundbesitzer sicher an die Spitze der einheimischen Pyramide stellte. Meredith versuchte sich Sir Rufus vorzustellen mit seiner Perücke, wie er majestätisch zu seinem reservierten Platz zwischen den Reihen unterwürfiger anderer Gläubiger schritt. Die meisten von ihnen waren von ihm abhängig gewesen, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Oder, um noch weiter in die Vergangenheit zu gehen, den verschlagenen Sir Hubert, wie er mit dem Bischof verhandelte und eine neue Kirche als Wiedergutmachung anbot.

»Mehr kann ich nun wirklich nicht tun, Hochwürden, oder?« Und der Bischof, der in dem Wissen, dass er Sir Hubert mit heruntergelassenen Hosen erwischt hatte, darauf bestand, dass es eine große Kirche zu sein hatte, prachtvoll und gut ausgestattet. Im Kontext dieser Vergangenheit betrachtet war der Mord an Hester Millar lediglich ein weiteres Ereignis, das St. Barnabas über sich hatte ergehen lassen müssen. Mit der Zeit würde es genau wie alle anderen in die Geschichte aufgenommen werden.

Als Meredith wieder draußen stand, vor der Kirche, zerzauste der Wind ihr Haar, und das ungemähte Gras auf den ungepflegten Gräbern schwankte im Wind wie ein Getreidefeld. Meredith ging zur Südseite hinunter und starrte hinauf zu dem Relief vom Grünen Mann. Der Ausdruck von Böswilligkeit war noch immer in seinem Gesicht und deutlich zu erkennen, obwohl der Stein verwittert war. Meredith erschauerte – vielleicht wegen des Bildnisses, vielleicht auch, weil der Wind den dünnen Stoff ihrer Bluse durchdrang. Dann hörte sie hinter sich ein Geräusch, das nicht vom Wind stammte oder vom raschelnden Gras. Ein schweres, mühsames Atmen.

Ihre Nackenhaare richteten sich auf. Langsam drehte sich Meredith um. Der Friedhof lag scheinbar leer und verlassen, trotzdem konnte Meredith dieses unheimliche Atmen noch hören. Es kam aus der Richtung eines moosüberwachsenen Grabes. Einige Sekunden lang erstarrte Meredith in nackter Panik. Was war in diesem Grab und versuchte herauszukommen? Dann riss sie sich zusammen und sagte sich entschieden, dass helllichter Tag war, ein Samstagnachmittag, und was auch immer sich auf diesem menschenleeren Friedhof bemerkbar machte, es stammte von dieser Welt und keiner anderen. Natürlich kam das Geräusch nicht aus dem Grab. Es kam von dahinter. Vorsichtig näherte sie sich der Stelle.

Hinter dem Grab, am Boden und mit dem Rücken gegen den Grabstein gelehnt, lag Old Billy Twelvetrees. Sein Stock lag am Boden neben ihm. Als er sie bemerkte, sah er ihr in die Augen, setzte zum Reden an, doch dann gab er den Versuch auf und deutete nur schwach auf seine Brust.

Er litt an Angina pectoris, entsann sich Meredith. Ruth hatte es ihr erzählt. Sie beugte sich über den alten Mann.

»Bleiben Sie ganz ruhig liegen, Mr. Twelvetrees. Keine Sorge, ich hole Hilfe. Ich habe mein Mobiltelefon dabei und rufe einen Krankenwagen.«

Schrecken huschte über sein Gesicht. Er winkte ablehnend. Dann öffnete er erneut den Mund und schnaufte, und so leise, dass sie sich ganz dicht über ihn beugen musste, um ihn zu verstehen, sagte er:

»Ich … will … nicht … in ein Krankenhaus.«

»Sie können aber nicht hier liegen bleiben, Mr. Twelvetrees.«

»Ich … hab … meine Pillen. Ich will nur … meine Pillen … sonst nichts.« Seine Hand fiel zur Seite und tastete über die Jackentasche.

»Sind die Pillen in Ihrer Tasche?«, Meredith kniete nieder und machte Anstalten, die Jackentaschen des Alten zu durchsuchen. Sie empfand kein besonderes Vergnügen dabei, ihre Hand in die fremden Taschen mit all den Flusen und den klebrigen kleinen Schmutzstückchen zu schieben, doch dort war eine kleine Flasche. Sie zog sie hervor und hielt sie hoch.

»Diese hier?« Twelvetrees nickte. Meredith überflog die Beschriftung auf der Flasche, öffnete sie und ließ eine kleine weiße Pille auf ihre Handfläche rollen.

»Machen Sie den Mund ein klein wenig auf, geht das?« Sie schob ihm die Pille zwischen die verwelkten Lippen. Die Muskeln in seinem Gesicht arbeiteten, als er die Pille einsaugte und herunterschluckte. Nach ein paar Sekunden schnaufte er:

»Ich kann jetzt wieder aufstehen, wenn Sie …« Ein weiteres Winken mit der Hand.

»Ich helfe Ihnen. Hier haben Sie Ihren Stock, und Sie können sich am Grabstein abstützen.« Irgendwie gelang es ihr, ihn in eine aufrechte Position zu bringen. Ein Hauch von Farbe war auf seine Wangen zurückgekehrt. Als er sprach, klangen seine Worte deutlicher als zuvor.

»Ich krieg manchmal so einen Anfall. Ich hab mich nur für einen Augenblick hingesetzt, weil es diesmal so schlimm war.«

»Vielleicht bringe ich Sie besser nach Hause, Mr. Twelvetrees, und dann rufe ich von dort Ihren Hausarzt an.«

»Ich hab meine Pillen, das reicht«, sagte er stur.

»Sicher, ich weiß, aber ich denke trotzdem … na ja, bringen wir Sie zuerst mal nach Hause, einverstanden?« Schwer auf Merediths Arm gestützt auf der einen und auf den Gehstock auf der anderen Seite bewegte er sich langsam den Pfad hinunter, unter dem Friedhofstor hindurch und hinaus auf die Straße.

»Ich wohne in dieser Richtung«, ächzte er und deutete zu der Reihe von Cottages auf der linken Seite. In diesem Augenblick erschien Evie in der Tür des Pubs.

»Stimmt was nicht mit dir, Onkel Billy?«, fragte sie, und ihr rundes Gesicht legte sich in erschrockene Falten.

»Er hatte einen Herzanfall«, rief Meredith ihr zu.

»Wissen Sie, wer sein Hausarzt ist?« Evie starrte sie aus aufgerissenen Augen an.

»Oh. Das ist Dr. Stewart.«

»Kann ich Ihren Onkel in das Pub bringen?« Evie schien zu zögern, dann trat sie beiseite, doch Old Billy Twelvetrees ächzte:

»Ich will nach Hause. Ich schaffe es bis nach Hause.«

»Wenn Sie meinen, dass Sie es schaffen«, erwiderte Meredith zweifelnd. Und an Evies Adresse gewandt:

»Er will nach Hause. Könnten Sie in der Praxis von Dr. Stewart anrufen und Bescheid sagen, was passiert ist? Ich glaube wirklich, Mr. Twelvetrees sollte heute noch von einem Arzt untersucht werden.« Evie blinzelte Meredith an, dann drehte sie sich um und ging nach drinnen – mit ein wenig Glück, um den Arzt anzurufen. Meredith und Billy näherten sich langsam und unbeholfen dem heruntergekommenen Cottage, in dem Twelvetrees lebte. Dort angekommen, lehnte Meredith ihn gegen die Wand neben der Tür und betätigte den Türklopfer in Gestalt eines Fuchskopfes, so fest sie konnte. Niemand antwortete.

»Dilys ist wahrscheinlich irgendwo im Dorf«, schnaufte Old Billy.

»Sie können mich hier zurücklassen, ich schaff den Rest alleine.«

»Nein, das kann ich nicht, Mr. Twelvetrees. Haben Sie denn keinen Schlüssel?«

»Ich brauch keinen Schlüssel. Die Hintertür ist immer offen.« Meredith suchte die Reihe von kleinen Cottages ab und entdeckte zwischen dem nächsten und dem übernächsten Haus eine schmale Gasse, mehr eine Lücke zwischen den beiden Gebäuden, die nach hinten zu führen schien.

»Dort entlang, Mr. Twelvetrees?« Er nickte.

»Lassen Sie mir ’ne Minute oder zwei, dann kann ich allein nach hinten und ins Haus.« Sie durfte ihn nicht alleine lassen, nicht in seinem Zustand.

»Sie bleiben hier, Mr. Twelvetrees. Ich gehe nach hinten, und wenn ich den Eingang gefunden habe, gehe ich durchs Haus und mache Ihnen auf.«

»Nein … Dilys …«, wollte er zum Widerspruch ansetzen und packte Merediths Arm, doch dann ließ er los und legte sich die Hand auf das Herz.

»Es fängt … schon wieder an!« Meredith wartete nicht länger. Sie rannte zu der Seitengasse und hindurch. Ihre Schultern streiften die Mauern der Cottages zu beiden Seiten, so eng war der Durchgang. Er führte zwischen den hinter den Häusern liegenden Gärten hindurch auf einen Trampelpfad, der sich hinter sämtlichen Gärten der Cottages an der High Street entlangzog. Meredith wandte sich nach rechts und fand die Rückseite des Hauses von Twelvetrees. Der Garten war durch einen baufälligen, rostigen Wellblechzaun vom Weg abgegrenzt, in dem es eine Holztür gab. An die Tür war – wie ein grausiger Talisman – ein altes, vertrocknetes, schmutziges und haariges Ding genagelt, das Meredith als Fuchsschwanz identifizierte. Sie erschauerte. Warum hatte Twelvetrees den Fuchsschwanz an die Gartentür genagelt? Um unerwünschten Besuch abzuhalten? Sie vermied es, den Schwanz zu berühren, und öffnete die Tür. Sie knarrte auf rostigen Angeln, und Meredith eilte durch den Garten, der offensichtlich komplett als Gemüsegarten diente. In jedem Beet wuchsen Kohlpflanzen, und es roch durchdringend nach verrottendem Grün. Meredith erreichte die Hintertür. Sie schwang unter ihrer Berührung nach innen, und sie stand in der Küche. Es roch nach gebratenem Speck.

»Dilys?«, rief sie. Niemand antwortete. Meredith war halb durch die Küche und hatte fast die Tür zum Flur erreicht, als ihr Blick auf ein Sammelsurium von Gegenständen auf dem Küchentisch fiel. Obwohl sie keine Zeit zu verlieren hatte, gewann ihre Neugier die Oberhand, und sie drehte den Kopf, um die Gegenstände besser erkennen zu können. Alles schien aus einer alten, zerfledderten Pappschachtel zu stammen, die an der Seite lag. Die Gegenstände waren in einer Art Muster ausgelegt, als hätte eine menschliche Version von Laubenvogel seinen Schatz aus bunten Dingen ausgebreitet, um ein Weibchen anzulocken. Meredith entdeckte eine Perlenkette, die gerissen und an den Enden ungeschickt zusammengeknotet war. Daneben lagen ein sehr hübscher Siegelring für einen Mann, ein weiterer Ring mit einem falschen großen Stein, ein Perlen-Ohrstecker, eine Damen-Armbanduhr, ein Kupferarmreif und eine blaue Plastik-Haarspange in der Form eines Schmetterlings. In der Küche schien es unnatürlich still. Meredith nahm den Siegelring zur Hand. Auf dem Schild waren in gotischer Schrift die Initialen SH eingraviert. Sie legte ihn vorsichtig wieder zurück, als könnte er zerbrechen. Wie in Trance ging sie den Flur hinunter, und öffnete die Vordertür für Old Billy, der noch immer dort stand. Meredith ihn zurückgelassen hatte, gegen den Türrahmen gelehnt.

»Kommen Sie lieber rein, Mr. Twelvetrees«, sagte sie zu ihm. Ihre Stimme klang fern, als gehörte sie jemand anderem. Sie nahm Twelvetrees beim Arm und führte ihn durch den Flur und – nach einem Augenblick des Zögerns – in das winzige Wohnzimmer zur Rechten, von dem aus man auf die Straße sehen konnte. Old Billy Twelvetrees sank in seinen Lehnsessel und stieß einen erleichterten Seufzer aus.

»Jetzt komme ich allein zurecht. Sie müssen nicht bleiben. Dilys ist sicher gleich zurück. Sie ist bestimmt ganz in der Nähe.«

»Sind Sie sicher?«

»Ich bin sicher!« Er hob seinen Stock und deutete in Richtung Tür.

»Gehen Sie! Gehen Sie! Meine Dilys ist nicht weit weg, wahrscheinlich nur nach draußen, um ein Schwätzchen mit einer Nachbarin zu halten. Ich hab meine Pillen. Mir geht es gut, solange ich mich auf meinem Sessel ausruhen kann.« Meredith wandte sich zum Gehen. Sie durchquerte den Hausflur und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Ein Blick die Straße hinauf und hinunter zeigte lediglich eine ältere, unbekannte Frau. Meredith nahm nicht an, dass es sich bei ihr um die abwesende Dilys Twelvetrees handelte, die, wie Alan ihr berichtet hatte, Old Billy Twelvetrees’ Tochter war. Die alte Dame auf der Straße war wenigstens siebzig. Sie betrat ein anderes Cottage und schloss hinter sich die Tür. Damit war die Straße frei. Dilys putzte doch bei Ruth Aston – war sie womöglich dorthin gegangen? Meredith rang mit widersprüchlichen Verantwortlichkeiten, und ihre Gedanken rasten. In Old Billys Interesse hätte sie eigentlich zurück ins Pub gehen und Evie sagen müssen, dass sie den alten Mann allein in seinem Haus zurückgelassen hatte – und sich vergewissern, dass die Frau von Norman Stubbings den Arzt angerufen hatte. Doch Zeit war der alles entscheidende Faktor. Sie musste unbedingt Alan sehen, so schnell wie möglich, das war von größter Bedeutung. Sie musste ihn hierher schaffen, bevor irgendjemand anders kam, Dilys, Evie, Dr. Stewart, irgendwer. Jeder von ihnen konnte die Gegenstände auf dem Küchentisch wegräumen. Alan musste sie sehen, wie sie dort lagen, ohne dass irgendjemand etwas daran veränderte. Er war zu jener Farm gefahren, Greenjack. Meredith kramte in ihrer Handtasche und zückte ihr Mobiltelefon, um ihn anzurufen, doch aus irgendeinem Grund kam keine Verbindung zu Stande. Sie schob das Telefon in die Tasche zurück und überlegte fieberhaft. Falls sie in Richtung von Stovey Woods losmarschierte, würde sie ihm wahrscheinlich begegnen, wenn er zurückkam. Meredith machte sich auf den Weg. Bald hatte sie die Cottages hinter sich gelassen. Die Straße führte zwischen Trockenmauern hindurch auf den dunklen, feindseligen Wald zu, der den Horizont versperrte. Der Wind zerzauste ihr Haar. Er brachte ein paar vereinzelte Regentropfen mit. Meredith schlug ein schnelles Tempo an.

KAPITEL 15

DIE WÄLDER hatten aus der Ferne näher ausgesehen, als sie es in Wirklichkeit waren. Während Meredith über den unebenen Weg trottete, nahmen sie mehr und mehr den Charakter einer Fata Morgana an, stets nur ein kleines Stück weit voraus. Von Alans Wagen, der, wie sie gehofft hatte, ihr entgegenkam, war keine Spur zu sehen. Je weiter sie sich von Lower Stovey entfernte, desto stärker wurde das Gefühl von Einsamkeit. Der Wind peitschte über das offene Feld und zerrte an ihren Kleidern und Haaren. Selbst die Schafe kauerten sich in den Windschatten der Trockenmauern. Die Regentropfen kamen immer häufiger und wurden stetig dicker. Sie hatte nicht mal ein Kopftuch dabei und würde sicherlich durchnässt werden. Ein eigenartiges, unangenehmes Gefühl breitete sich zwischen ihren Schulterblättern aus, wie es manchmal der Fall ist, wenn man spürt, dass man verfolgt wird. Immer häufiger warf sie Blicke hinter sich, doch die Straße lag so leer und verlassen wie zuvor. Ein, zwei Mal wurde ihre Aufmerksamkeit von den Schafen gefesselt, die unvermittelt laut blökten und wie in Panik über die Weide davonrannten. Vielleicht hatte ihr Anblick sie erschreckt, auch wenn Meredith kein Grund dafür einfallen wollte. Sie hatte das Gefühl, dass sie beobachtet wurde, und es wollte nicht von ihr weichen. Wer beobachtete sie? Nur die Schafe. Die wenigen Kühe auf ihren Weiden lagen alle und käuten wieder, während sie ergeben auf den Regen warteten. Sie interessierten sich nicht für eine einzelne menschliche Gestalt, die über die Straße eilte.

»Reiß dich zusammen, verdammt!«, sagte sie streng zu sich selbst. Der Regen hatte endgültig eingesetzt, und sie konnte ihm nicht ausweichen. Sie musste ihn genauso ertragen, wie es die Tiere taten. Er strömte ihr über das Gesicht, durchnässte ihre Bluse und ihre Jeans, die unangenehm an ihren Beinen klebte. Meredith stapfte entschlossen voran, so schnell sie konnte, doch zu ihrem Unbehagen kam immer mehr die Frustration hinzu, dass sie den vertrauten Wagen Alans nicht entgegenkommen sah. Wo steckte er nur? Wie lange brauchte er auf dieser Farm? Vor ihr lag eine Biegung, und dort stand ein Holzschild. Endlich! Sie überflog die Worte

»Greenjack Farm« und bog auf den Feldweg ein. Das Farmtor versperrte ihr den Weg und erweckte in ihr ein Gefühl wie in einem Flüchtling beim Anblick eines Grenzbaums. Dann jedoch, als sie niemanden auf dem Hof sehen konnte und – bedeutsamer noch – immer noch keine Spur von Alans Wagen entdeckte – sank ihr Mut. Sie blieb verwirrt stehen und runzelte die Stirn. Er war ihr nicht begegnet. Es gab nur diesen einen Weg hinunter ins Dorf. Er schien wie vom Erdboden verschluckt. Vorsichtig überquerte Meredith den Hof und bemühte sich, den offensichtlichsten Kuhfladen auszuweichen, doch ihre Schuhe versanken trotzdem in dem übel riechenden Morast, und die Erinnerung daran würde noch lange an ihnen haften, nachdem die Schuhe längst wieder sauber und poliert waren. Sie läutete an der Tür, und eine Frau von ungefähr vierzig Jahren öffnete. Sie starrte Meredith nicht wenig überrascht an, was wahrscheinlich auch nicht anders zu erwarten war. Meredith wusste, dass ihr durchnässtes Erscheinungsbild und ihr Auftauchen aus dem Nichts nach einer Erklärung verlangte, die sie nicht zu geben vermochte, daher fragte sie einfach:

»Ist Superintendent Markby hier?« Die Frau starrte Meredith immer noch verwirrt an, während sie den Kopf schüttelte.

»Nein. Er ist vor ungefähr zehn Minuten gegangen.«

»Gegangen?«, rief Meredith ungläubig aus.

»Aber ich bin ihm nicht begegnet auf dem Weg vom Dorf hierher!« Die Frau blinzelte.

»Möchten Sie vielleicht reinkommen?«, fragte sie.

»Hier draußen werden Sie klatschnass.« Sie spähte an Meredith vorbei.

»Wo haben Sie Ihren Wagen?«

»Ich … ich bin zu Fuß hier. Und danke, nein, ich möchte nicht reinkommen. Ich bin mit Alan nach Lower Stovey gekommen, mit Superintendent Markby, meine ich, und ich muss ihn ganz dringend finden!« Ein weiteres überraschtes Blinzeln.

»Nun ja, vielleicht kommt er noch mal zurück. Oder ich könnte Sie ins Dorf fahren, falls nicht. Sie sind eine Polizistin?«

»Nein.« Meredith schob sich die nassen Haare aus der Stirn.

»Hören Sie, sind Sie ganz sicher, dass er weg ist? Er ist nicht mehr irgendwo auf der Farm oder so?«

»Höchstens, wenn sein Wagen noch da ist.«

»Ist er nicht.«

»Dann ist er weggefahren.« Diese Unterhaltung drehte sich im Kreis und führte nicht weiter, und Meredith spürte, wie sie von Sekunde zu Sekunde verzweifelter wurde.

»Wohin kann er denn gefahren sein?«, fragte sie, immer noch in dem unerschütterlichen Glauben, dass Alan irgendwo auf der Farm stecken musste. Die Frau bedachte sie mit einem eigenartigen Blick.

»Wenn Sie ihm nicht auf der Straße begegnet sind, dann muss er am Ende der Zufahrt rechts abgebogen und zum Waldrand gefahren sein.« Zum Wald. Natürlich. Markbys Besessenheit vom Kartoffelmann hatte die Oberhand gewonnen, und er war zum Wald gefahren.

»Danke sehr!«, murmelte Meredith.

»Tut mir Leid, wenn ich Sie gestört haben sollte …« Sie wandte sich zum Gehen.

»Sie können nicht dorthin!«, rief die Frau erschrocken.

»Es ist kein Ort, zu dem … kein Ort, an dem sich eine Frau ganz allein aufhalten sollte!«

»Ich muss Superintendent Markby aber finden. Es ist wirklich dringend!« Die Frau blickte Meredith unbehaglich an. Als sie einsah, dass Meredith fest entschlossen schien, sagte sie:

»Warten Sie, ich geb Ihnen wenigstens einen Schirm mit, wenn Sie schon gehen müssen!« Sie zog einen alten Regenschirm aus einem Ständer im Flur und reichte ihn Meredith.

»Ich glaube, es wäre wirklich besser, wenn Sie hier auf ihn warten würden. Falls er zum Wald gefahren ist, dann kommt er mit Sicherheit über den Weg unten zurück, sobald er zurück nach Lower Stovey fährt. Wenn Sie unten am Ende der Zufahrt warten, sehen Sie ihn, und er sieht Sie. Es ist absolut nicht nötig, dass Sie in den Wald gehen!« Ihr beharrliches Bestehen darauf, dass Meredith nicht allein nach Stovey Woods gehen sollte, erschien angesichts der Umstände unangemessen. Es machte kaum einen Unterschied, ob sie nun am Straßenrand wartete, neben dem Farmschild, oder ob sie zum Waldrand ging. Nasser konnte sie nicht mehr werden. Sie war bereits bis auf die Haut durchnässt. Selbst das Angebot, ihr einen Schirm auszuleihen, erschien unnötig, auch wenn es freundlich gemeint war und es ungehobelt erscheinen würde, wenn Meredith ablehnte.

»Danke für den Schirm«, stieß Meredith hervor.

»Ich kann nicht länger warten.« Sie hastete über den Hof zurück, während sie die Blicke der Frau auf sich ruhen spürte, die Meredith mit nervöser Anspannung hinterhersah. Der Schirm, ein großes, altmodisches Modell, machte das Vorankommen ein wenig trockener, jedoch nicht leichter. Der Wind fing sich immer wieder darin und drohte den Schirm umzuklappen, wenn Meredith ihn aufrecht hielt. Wenn sie ihn vor sich senkte, musste sie gegen die Kraft des Windes ankämpfen. Am Ende des Zufahrtswegs zur Farm gab Meredith ihre Bemühungen auf, den Schirm sinnvoll zu nutzen, faltete ihn zusammen und stellte ihn an das Farmschild, wo man ihn sehen konnte. Dann wandte sie sich nach rechts und fiel in einen leichten Dauerlauf, der dunklen Masse von Bäumen entgegen. Sie war inzwischen so nass, dass es keine Rolle mehr spielte. Schließlich erreichte sie die Stelle, wo die Straße endete. Vor ihr lag der Waldrand. Endlich sah sie auch, an der Seite abgestellt, Alans Wagen. Es war ein höchst willkommener Anblick. Doch er war nicht darin, und als sie die Wagentür öffnen wollte, stellte sie fest, dass sie verschlossen war. Sie zog erneut ihr Mobiltelefon hervor und versuchte ihn zu erreichen, doch es gab immer noch kein Netz. Er war im Wald, und hier draußen gab es keine Masten. Sie konnte hier bleiben und warten wie eine nasse Ratte oder ihm in den Wald folgen. Unter den Bäumen gab es wenigstens Schutz vor dem Wetter. Andererseits, falls sie in den Wald ging, bestand die Möglichkeit, dass sie sich verpassten und er bereits davongefahren war, wenn sie zurückkam. Meredith riss ein Blatt Papier aus einem Notizbuch in ihrer Tasche und kritzelte eine Nachricht für Alan darauf. Ich bin im Wald. Warte auf mich. Sie klemmte das Blatt unter den Scheibenwischer. Das sollte reichen. Meredith kletterte über den Zauntritt und marschierte unter die ersten Bäume. Endlich war sie vor den schlimmsten Auswirkungen des Wetters geschützt, auch wenn der Regen in den Zweigen über ihr heftig rauschte. Immer wieder fand das Wasser einen Weg nach unten, und in regelmäßigen Abständen prasselte eine Serie dicker Tropfen auf sie herab. Wenigstens vermochte der Wind die dichte Masse von Bäumen nicht zu durchdringen Sie legte die Hände trichterförmig an den Mund und rief

»Alan!« Ihre Stimme wurde von den Bäumen verschluckt. Sie ging ein wenig tiefer in den Wald hinein, folgte einem schmalen Wildwechsel und versuchte es erneut, ohne Glück. Er konnte nicht weit sein, oder? Wonach mochte er suchen? Vielleicht nach der Stelle, wo Dr. Morgan die Knochen gefunden hatte? Doch Meredith wusste nicht, wo das gewesen war. Sie hatte jenen beruhigenden Bereich verlassen, wo hinter ihr zwischen den Bäumen noch das offene Feld hindurchgeschimmert hatte, und befand sich tief im Wald. Das Gefühl von Einsamkeit war verschwunden. Jetzt hatte sie das Gefühl, von zahlreichen verborgenen Augen ringsum beobachtet zu werden. Das Gefühl, verfolgt zu werden, das sie bereits auf der Straße gehabt hatte, kehrte mit aller Macht zurück. Sie wirbelte herum. Nichts. Doch das unheimliche Gefühl wurde von Minute zu Minute stärker, bis der Augenblick kam, an dem sie mit absoluter Sicherheit wusste, dass sie nicht allein im Wald war. Irgendetwas – irgendjemand? – verfolgte sie. Jede Faser, jede Nervenzelle in ihrem Körper sagte das Gleiche. Sie konnte es nicht sehen, nicht hören, nicht riechen, doch ihre Haut kitzelte, und ihre Sinne waren unnatürlich geschärft. Die Zivilisation fiel von ihr ab, und sie begann, sich anders zu bewegen. Sie setzte die Füße vorsichtig auf den von Tannennadeln übersäten Boden, den Kopf hoch erhoben und unablässig auf Bewegungen in ihrer unmittelbaren Umgebung achtend, angestrengt auf das leiseste Geräusch lauschend, während uralte, schlafende Instinkte erwachten und die ältesten Überlebenstechniken erforderlich wurden, die von Jäger und Gejagtem. Sie war beides zugleich – auf der Jagd nach Alan und auf der Flucht vor etwas Unbekanntem – vor wem? Sie bedauerte längst, den Schirm zurückgelassen zu haben. Er hätte sich als eine Art Waffe benutzen lassen, ein Mittel, um einen Angreifer auf Abstand zu halten. Erneut rief sie Alans Namen, und diesmal hatte sie Mühe, die Panik aus ihrer Stimme zu halten. Ganz, ganz schwach glaubte sie eine Antwort zu hören, und ihr Herz machte einen Satz. Eine Woge der Erleichterung überflutete sie. Er war vor ihr. Er war nicht weit entfernt. Sie war nicht allein im Wald, doch es war Alan, der in ihrer Nähe war. Und dann hörte sie es zu ihrer Rechten. Ein Knacken von einem Zweig, als wäre jemand darauf getreten. Meredith erstarrte, und das Herz schlug ihr bis zum Hals.

»Hallo?«, rief sie aus. Keine Antwort. Sicher, es gab Tiere in diesen Wäldern. Vielleicht war es ein Reh gewesen. Ja, bestimmt war es ein Reh gewesen. Meredith eilte weiter. Alan ist ein Stück weit voraus. Sie wiederholte die Worte wie ein Mantra. Er hatte ihr Rufen gehört. Er würde ihr entgegenkommen. Und doch, hinter ihr, irgendwo ein Stück weit rechts, war irgendetwas. Es folgte ihr, hielt mit ihr Schritt. Doch so angestrengt sie auch unter den Bäumen hindurch in die Richtung spähte, sie vermochte nichts zu entdecken. Weitere Zweige knackten. Bald meinte sie angestrengtes Atmen zu hören. Es musste Einbildung sein. Ganz bestimmt. Es musste Einbildung sein. Plötzlich fand sie sich auf einer kleinen Lichtung wieder, vollkommen unvermittelt und ohne Vorwarnung. Im einen Augenblick war sie noch unter schützenden Bäumen hergelaufen, im nächsten stand sie draußen im Freien und am Rand einer Vertiefung. Wenn sie von irgendeinem lebendigen Ding verfolgt wurde, dann konnte es sie jetzt klar und deutlich sehen. In die Enge getrieben, dachte sie grimmig. Wie ein Stück Wild, das auf den Tiger wartet. Rings um den Rand der Vertiefung führten Wildwechsel unter die Bäume, wo sie sich verloren. Meredith wusste nicht, ob Alan hier entlanggekommen war, oder falls ja, welchem Wildwechsel er von hier aus gefolgt war.

»Alan!«, rief sie verzweifelt ein letztes Mal. Und dann war es plötzlich über ihr, sprang sie an, unter der dunklen Masse von Bäumen hervor, überwand den freien Raum, und das angestrengte Atmen war überlaut. Meredith wirbelte herum und riss den Arm hoch in einer instinktiven Geste, um ihren Kopf zu schützen. Ihr Verfolger war da, nicht länger ein unsichtbarer Schatten, sondern von Angesicht zu Angesicht, und der Anblick war erschreckend und verwirrend zugleich. Es war eine Frau, nicht jung, sondern im reiferen Alter, in weiten, bequemen Hosen und mit einer wasserdichten Jacke. Eine Frau mit eigenartig rosafarbenem Haar und starren Augen und weit aufgerissenem Mund. Eine Frau mit einem Metzgermesser in der Hand. Das Messer zischte durch die Luft und verfehlte Merediths Schulter nur knapp. Die Hand mit dem Messer ging erneut nach oben. Meredith packte sie und versuchte sie zu verdrehen und ihre Angreiferin zu zwingen, das Messer fallen zu lassen. Doch die fremde Frau war stark, unglaublich stark. Mit aller Kraft stieß Meredith sie von sich und entging einmal mehr dem wirbelnden Messer, dann wandte sie sich ab und rannte in die Richtung davon, aus der sie gekommen war. Sie war jünger und leichter. Sie sollte im Stande sein, ihrer Verfolgerin zu entkommen, wer auch immer sie war. Doch die Bäume, deren Schutz Meredith gesucht hatte, waren gegen sie. Meredith stolperte über eine vorstehende Wurzel, riss vergeblich die Arme hoch, um sich abzufangen, und landete der Länge nach mit dem Gesicht nach unten auf dem Teppich aus Tannennadeln. Sie rollte sich herum, tastete hektisch nach einem Halt, blickte auf und sah die fremde Frau über sich. Das Messer wurde erneut hochgerissen. Das runde Gesicht mit den glitzernden Augen verzog sich zu einer triumphierenden Fratze. Dann plötzlich gab es eine neue Bewegung, und ein weiterer Schatten kam unter den Bäumen hervor und über die Lichtung auf sie zu. Es war ein Anblick, der genauso furchterregend war wie die Frau, die über Meredith stand. Es war eine Bestie, und für den Bruchteil einer Sekunde sah es aus, als wäre sie aus irgendeinem dunklen, längst vergangenen Zeitalter in die Gegenwart versetzt worden. Dann bemerkte Meredith, dass es sich um einen Hund handelte, einen riesigen, zottigen Hund von der Größe eines Shetland Ponys. Mit flatternden Ohren und heraushängender roter Zunge überwand er die Lichtung im Bruchteil einer Sekunde und warf sich auf Merediths Angreiferin. Unter der Wucht des Anpralls ging die Frau zu Boden wie von einer Streitaxt gefällt. Das Messer segelte aus ihrer Hand und landete Zentimeter von Meredith entfernt, die es packte und sich auf die Knie rappelte. Der Hund hatte die Pfoten auf die Brust der fremden Frau gestemmt und hielt sie fest, während er begeistert ihr Gesicht leckte. Hilflos unter seinem Gewicht und dem Angriff der rauen Zunge auf ihr Gesicht verfluchte die fremde Frau das Tier und kämpfte vergeblich, um es von sich zu schieben. Aus der Richtung, wo der Hund unter den Bäumen hervor gekommen war, erschien jetzt eine vertraute Gestalt in langem Rock und regenbogenfarbenem Strickpullover unter einer schmuddeligen Weste und mit einem Regenhut aus Plastik auf dem Kopf. Sie polterte über die Lichtung auf Meredith, die fremde Frau und den Hund zu, während sie unablässig

»Roger! Roger! Lass das! Böser Hund!« rief.

»Nein!«, rief Meredith zurück.

»Lassen Sie ihn! Er soll bleiben, wo er ist!« Muriel Scott kam ächzend vor Meredith zum Stehen.

»Warum denn?«, fragte sie sachlich. Meredith hielt das Messer hoch.

»Sie hat versucht, mich zu erstechen! Sie hat Hester Millar ermordet!« Mrs. Scott starrte aus zusammengekniffenen Augen auf die Gestalt am Boden.

»Dilys hat Hester ermordet? Aber warum denn?«

»Ich … ich habe Sachen in der Küche gesehen«, ächzte Meredith außer Atem.

»Ich … habe die Sammlung des Kartoffelmanns gesehen.«

»Tatsächlich?«, fragte eine neue, männliche Stimme. Alle blickten sich nach dem Neuankömmling um. Alan Markby war auf der Lichtung eingetroffen und stand wenige Meter entfernt. Er trat vor und nahm Meredith bei den Schultern.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

»Bist du unverletzt?«

»Ja, ja!« Sie zeigte mit zitterndem Finger auf die finster dreinblickende Dilys.

»Sie … sie hat mich in Todesangst versetzt!«

»Es ist vorbei. Ich kümmere mich darum«, sagte er, und sie spürte, wie die Panik versiegte. Er streckte die Hand aus. Meredith reichte ihm das Messer. Ein wenig verspätet spät fiel ihr ein, es an der Klinge zu halten, und sie beobachtete, wie er sein Taschentuch nahm und es vorsichtig um den Griff wickelte.

»So, Dilys Twelvetrees«, sagte er zu der Frau am Boden.

»Wenn Mrs. Scott nun so freundlich wäre, Roger zu sich zu rufen, können Sie aufstehen. Anschließend kehren wir alle nach Lower Stovey zurück, wo ich mich auf ein Wort mit Ihrem Vater unterhalten werde.«

Die kurze Fahrt zurück ins Dorf in Alans Wagen war das eigentümlichste Erlebnis, das Meredith je gehabt hatte. Außer Stande, Roger im Wagen unterzubringen, war Muriel Scott zu Fuß losgegangen, um den Hund nach Hause zu bringen. Nach einer kurzen Diskussion hatte Meredith klar gemacht, dass sie sich genügend von ihrer Panik erholt hatte, um den Wagen die kurze Strecke bis nach Lower Stovey im Schneckentempo zu fahren. Sie war sich nur zu bewusst, dass Alan hinter ihr im Rücksitz neben der schweigenden Dilys Twelvetrees saß. Das Gesicht der Frau war reglos. Die verhärmten Hände lagen gefaltet im Schoß. Sie starrte geradeaus. Markby hatte Dave Pearce angerufen und ihm gesagt, dass er zum Cottage der Twelvetrees’ kommen sollte, doch es würde noch mindestens fünfundzwanzig Minuten dauern, bis er dort sein konnte.

Vor dem Cottage lenkte Meredith den Wagen an den Straßenrand, und alle stiegen aus.

»Alan …«, Meredith zupfte Markby am Ärmel.

»Bevor ich raus in den Wald gegangen bin, hatte Old Billy einen Herzanfall. Ich hab ihm geholfen und ihn nach Hause gebracht. Möglich, dass er nicht fit genug ist, um Fragen zu beantworten.« Markby nickte.

»Wir werden sehen. Der Schlüssel?«, fragte er an Dilys gewandt. Mürrisch zog sie den Schlüssel aus der Jackentasche.

»Schließen Sie bitte auf.« Dilys gehorchte widerwillig.

»Sie gehen zuerst rein. Sagen Sie Ihrem Vater, dass ich mit ihm reden möchte.« Dilys funkelte ihn an, und immer noch schweigend betrat sie das Cottage. Markby und Meredith folgten ihr und warteten in dem schmalen Flur. Dilys war ins Wohnzimmer gegangen. Sie hörten sie fragen:

»Dad?« Old Billy antwortete nicht, und nach einer kurzen Weile hörten sie, wie Dilys zurückkam. Alan stieß einen leisen Fluch aus und machte Anstalten, die Tür zum Wohnzimmer aufzustoßen. Die Sicht wurde blockiert von der kräftigen Gestalt von Dilys, die mit einem Ausdruck von Triumph im Gesicht vor ihnen stand.

»Sie können nicht mit ihm reden«, sagte sie.

»Nicht jetzt und überhaupt nie mehr.« Ihre Augen leuchteten spöttisch. Markby schob sich an ihr vorbei. Old Billy saß in dem Sessel, wo Meredith ihn zurückgelassen hatte. Sein Gehstock lehnte an seinen Knien, und sein rechter Arm hing schlaff über die Sessellehne. Unter der Hand lag die kleine Medizinflasche auf dem fadenscheinigen Teppich, die Pillen verstreut auf dem Boden. Old Billys Augen waren glasig und halb geschlossen. Markby atmete heftig ein. Am Ende war ihm der Kartoffelmann doch noch durch das Netz geschlüpft. Hinter ihm sagte Dilys leise triumphierend:

»Sehen Sie? Ich hab’s Ihnen doch gesagt. Sie werden nicht mit ihm reden.«

KAPITEL 16

IN DIESEM Augenblick schreckten alle verblüfft zusammen, als sich hinter ihnen jemand laut räusperte. Ein jüngerer Mann in einem Sportsakko stand in der Tür. Er trug einen Arztkoffer.

»Ich bin Dr. Stewart«, stellte er sich vor.

»Ich wurde zu Mr. Twelvetrees gerufen.«

»Ihr Patient ist hier«, sagte Markby zu ihm.

»Ich fürchte allerdings, Sie sind ein wenig zu spät dran.« Wie Markby und alle anderen auch. Stewart stieß eine leise Verwünschung aus und eilte an ihnen vorbei ins Wohnzimmer. Als er Dilys passierte, sagte sie zum ersten Mal wieder etwas.

»Sie müssen sich nicht mehr beeilen, Doktor. Er läuft Ihnen nicht weg.« Ihre Worte gingen unter im Geräusch eines Wagens, der draußen mit quietschenden Bremsen hielt. Pearces Stimme hallte ins Haus.

»Superintendent Markby? Sind Sie da drin, Sir?« Markby ging in den Hausflur und sah gerade noch, wie Pearce sich unter dem niedrigen Türsturz hindurchduckte, um einzutreten. Hinter ihm standen Ginny Holding sowie ein weiterer Beamter in Uniform.

»Wo ist die Frau?«, fragte Pearce unverblümt. Markby deutete mit dem Kopf in Richtung Wohnzimmer.

»Da drin, zusammen mit ihrem Vater, der eben gestorben ist. Sie müssen behutsam vorgehen, Dave, aber ich denke, wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass sie Hester Millar ermordet hat. Was den Grund betrifft, so bin ich nicht sicher, ob wir das Motiv noch entdecken werden.« Meredith kam mit bleichem Gesicht aus dem Wohnzimmer.

»Ich fühle mich schrecklich. Ich hätte den armen alten Burschen nicht alleine lassen dürfen! Er hat darauf bestanden! Er sagte, seine Tochter würde sicher bald zurück sein. Ich habe der Frau vom Wirt des Fitzroy Arms gesagt, sie soll Dr. Stewart anrufen, und ich … na ja, ich hab verzweifelt versucht, dich zu finden, Alan, um dir von den Sachen zu erzählen, die ich in der Küche entdeckt hatte. Sind sie noch da?«

»Verdammt!«, murmelte Markby. Er rannte durch den Flur und in die Küche. Der Tisch war leer. Er fluchte laut und aufgebracht. Meredith tauchte hinter ihm auf. Sie bemerkte den leeren Tisch und sagte:

»Ich habe wirklich gründlichen Mist gebaut, wie? Ich hätte hier bleiben sollen, bis ich dich mit meinem Mobiltelefon erreicht hätte, ein Auge auf Billy Twelvetrees werfen und sicherstellen, dass die Schachtel mit den Trophäen nicht angefasst wird. Es tut mir Leid.« Er straffte die Schultern.

»Du musst dich nicht entschuldigen. Du hast ganz natürlich reagiert, wenn man den Schock bedenkt, den du erlitten hast. Entweder hat Dilys die Beweise beiseite geräumt, bevor sie hinter dir her ist, oder es war der alte Mann selbst, bevor er auf dem Sessel zusammengebrochen ist. Hoffen wir, dass es Old Billy war. Er kann nicht weit gekommen sein, und die Beweise sind wahrscheinlich noch irgendwo hier im Haus. Dilys andererseits kann sie überall zwischen hier und Stovey Woods entsorgt haben. Ich kann mir gut vorstellen, was passiert ist. Sie kam wenige Sekunden, nachdem du ihren Vater hier zurückgelassen hattest, nach Hause, erfuhr von ihm, dass du ihn nach Hause gebracht und dass du dir durch den Hintereingang und die Küche Zugang zum Cottage verschafft hattest. Sie wusste, dass du die Schachtel mit den Trophäen unmöglich übersehen haben konntest und entschlossen warst, mich darüber zu informieren. Sie ist hinter dir her, entschlossen, dir den Garaus zu machen, bevor du eine Gelegenheit hattest, mit mir zu reden.«

»Fast wäre es ihr gelungen«, sagte Meredith erschauernd.

»Ja.« Nüchtern sagte er:

»Ich hätte daran denken sollen. Ich habe mir alles nach und nach im Verlauf der letzten Woche zusammengereimt, doch nachdem ich mit Linda Jones gesprochen hatte, war ich sicher. Old Billy Twelvetrees war der Kartoffelmann von vor zweiundzwanzig Jahren. Mir hätte klar sein müssen, dass Dilys es seit Jahren wusste.«

»Und trotzdem hat sie geschwiegen?« Sie starrte ihn ungläubig an.

»Hättest du an ihrer Stelle den Mund aufgemacht? Sie wohnt in diesem Dorf. Sie hat keinen anderen Ort, an den sie gehen könnte. Außerdem – zweiundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Sie hat wahrscheinlich geglaubt, dass alles längst begraben und vergessen ist.« Er schüttelte den Kopf.

»Weißt du, das Problem mit Leuten, die man erst kennen lernt, wenn sie schon in fortgeschrittenem Alter sind, ist, dass man sich nur schwer vorstellen kann, wie sie als jüngere Menschen waren, und noch schwerer, dass sie gewalttätig gewesen sein könnten. Du kanntest Billy Twelvetrees nur als alten Mann, behindert, beim Gehen auf einen Stock gestützt und schnaufend, weil er Atemprobleme hatte. Wie kann so jemand jemals eine Gefahr für andere Leute gewesen sein? Selbst der bloße Verdacht muss einem herzlos erscheinen. Entweder ich oder ein anderer Beamter muss ihn damals vernommen haben, als wir mit sämtlichen Männern aus dem Dorf gesprochen haben, doch er hat sich seither so verändert, dass nicht einmal ich ihn gleich wiedererkannt habe. Ich habe ihn als vollkommen anderen Menschen gesehen, als hätte ich ihn neu kennen gelernt. Bei Martin Jones war es fast genauso. Ich habe ihn nur wiedererkannt, weil ich ihn in seinem Stall angetroffen habe. Außerhalb seiner vertrauten Umgebung, wer weiß, ich hätte ihn wahrscheinlich genauso wenig erkannt wie Old Billy. Ich weiß jetzt, dass ich einen Fehler gemacht habe, damals wie heute. Ich habe angenommen, dass Vergewaltigung ein Verbrechen ist, das viel jüngere Männer begehen, Männer, die irgendwo zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt sind. Und doch hat Ruth uns Hinweise gegeben, wenn wir nur Ohren gehabt hätten, um sie zu hören! Sie hat uns erzählt, du erinnerst dich sicher, dass sie, als sie von ihrer Begegnung mit Simon Hastings weggelaufen ist, beinahe mit Twelvetrees zusammengestoßen wäre. Und dass er damals ein ganzes Stück jünger gewesen wäre, gesund und bei vollen Kräften, ein Endfünfziger. Er hat damals für Martin Jones gearbeitet, direkt neben Stovey Woods. Niemand hätte sich etwas dabei gedacht, ihn dort zu sehen. Ruth auch nicht. Es war völlig normal, ihn dort zu treffen.«

»Ruth!«, rief Meredith erschrocken.

»Sie fragt sich inzwischen wahrscheinlich, wo um alles in der Welt wir bleiben!« Als sie aus dem Haus eilten, kamen sie an Dilys vorüber, die von Sergeant Holding in einen Streifenwagen gebracht wurde.

»Sagen Sie Inspector Pearce, dass wir zu Mrs. Aston gegangen sind«, befahl Markby der jungen Beamtin. Dilys blickte auf, und zum ersten Mal zeigte sich auf ihrem runden Gesicht eine andere Emotion außer manischem Triumph. Es war ein Ausdruck von echtem Bedauern, der jedoch nur kurz anhielt, bevor er Resignation wich.

»Sagen Sie Mrs. Aston, dass es mir Leid tut«, sagte sie zu Meredith.

»Aber es ging nicht anders. Hester hat gesehen, was Sie auch gesehen haben.«

»Sie meinen, Hester Millar hat die Trophäenschachtel Ihres Vaters gesehen?«, fragte Markby.

»Wo ist sie jetzt, Dilys?«

»Keine Ahnung.« Der Blick, mit dem sie Markby bedachte, war spöttisch und unversöhnlich zugleich.

»Vielleicht sollten Sie meinen Dad fragen?« Meredith bemerkte ein Zucken in Markbys Gesicht, doch der Superintendent erwiderte gelassen:

»Warum ist Miss Millar am Morgen ihres Todes zu Ihnen gekommen?«

»Sie hat uns Marmelade gebracht«, sagte Dilys schniefend.

»Sie hat ständig Marmelade eingekocht und sie allen möglichen Leuten geschenkt.«

»Marmelade!«, rief Ruth bestürzt.

»Das war es! Das war es, was Hester in der Hand hatte, als sie zu mir kam und sagte, dass sie jetzt gehen würde! Ein Glas Marmelade. Es war etwas so Gewöhnliches, dass ich nicht darauf geachtet habe. Ich habe es glatt vergessen! Erst jetzt, wo Sie es sagen, sehe ich sie wieder vor mir stehen, mit dem Glas in der Hand. Sie hat nicht gesagt, dass sie zu Old Billy Twelvetrees gehen wollte, aber so muss es gewesen sein! Es war alles meine Idee …«

Ruth brach ab.

»Also bin ich für ihren Tod verantwortlich«, sagte sie nach einigen Sekunden leise.

»Moralisch jedenfalls. Es war meine Idee, dass sie dem alten Mann ein Glas Marmelade schenken sollte, persönlich. Und weil sie das tun wollte, ist sie in das Cottage der Twelvetrees’ geplatzt, gerade als der alte Mistkerl über seinen Trophäen gesessen und sich daran ergötzt hat.«

»Sie muss nicht unbedingt gewusst haben, worum es sich handelt«, gab Meredith zu bedenken.

»Es war nur Krimskrams, eine Perlenkette, ein Siegelring von einem Mann und Plastikschmuck.«

»Ein Siegelring von einem Mann?«, fragte Markby stirnrunzelnd.

»Ja. Er ist mir sofort aufgefallen, weil er nicht zu den anderen Sachen gepasst hat. All die anderen Sachen hat Twelvetrees Frauen abgenommen – Perlen, Ohrring, Haarklammer. Aber dieser Ring war groß und schwer und definitiv von einem Mann …« Meredith blickte Ruth nervös an.

»Er hatte die Initialen SH.« An Markby gewandt, fügte sie hinzu:

»Ich wollte dir noch davon erzählen. Ich bin noch nicht dazu gekommen.«

»Ich habe Simon diesen Ring geschenkt«, sagte Ruth leise.

»Ich hab ihn damals Hester gezeigt, bevor ich ihn Simon gab. Sie hätte ihn sicher wiedererkannt. Sie wusste, dass im Wald Knochen gefunden worden waren. Ich hab ihr damals erzählt, dass ich Simon draußen im Wald begegnet war. Sie wusste, dass der Ring von ihm sein musste, und offensichtlich hat sie sich anmerken lassen, dass sie es wusste.«

»Aber sie wusste nicht, wie er in diese Schachtel gekommen war«, setzte Markby die Geschichte fort, nachdem Ruth verstummt war.

»Old Billy hatte den Ring aus den Wäldern mitgebracht, so viel steht fest. Aber hat er ihn bei einem Toten gefunden? Oder hat er den Mann umgebracht und ihm dann den Ring abgenommen? Hester ging in die Kirche und kniete zum Gebet. Sie betete um göttlichen Rat. Sie wusste, dass sie es Ihnen erzählen musste, Ruth, und sie wusste, dass Sie beide es der Polizei melden würden. Es würde eine Menge Mut von Ihrer Seite erfordern, Ruth. Die Geschichte von Ihrem Baby würde bekannt werden. Hester hatte Sie schon einmal geschützt, vor vielen Jahren, als Sie schwanger waren. Doch sie sah keinen Weg, wie sie Sie jetzt noch hätte schützen können. Dilys war ihr zur Kirche gefolgt. Vielleicht hat Hester aufgeblickt, als sie hereinkam, wir wissen es nicht. Bestimmt jedoch hat sie sich nicht vor Dilys gefürchtet, nicht einmal unter den gegebenen Umständen. Sie kannte Dilys zu gut. Vielleicht hat sie sogar geglaubt, dass Dilys nicht wusste, woher ihr Vater den Ring hatte.« Ruth rutschte auf dem Sofa hin und her, in das sie sich hatte sinken lassen, während Markby sprach.

»Ich finde es immer noch schwer zu glauben«, sagte sie jetzt.

»Aber vielleicht habe ich mir auch etwas vorgemacht. Die Twelvetrees’ waren in Lower Stovey immer Außenseiter. Es ist eigenartig, nicht wahr? In jedem Dorf gibt es eine Familie, die toleriert und die dennoch von allen missbilligt wird.«

»Wahrscheinlich aus gutem Grund, selbst wenn es die Sorte von Grund war, über die niemand reden wollte. Vielleicht war Old Billy der Trunkenbold des Dorfes?«

»Er hat getrunken, so viel steht fest. Ob er mehr getrunken hat als die anderen Männer im Dorf weiß ich nicht zu sagen.« Ruth biss sich auf die Lippe.

»Zurückblickend sehe ich, dass er gewalttätig gewesen ist, auch schon damals. Häusliche Gewalt, nennt man es heute. Damals haben die Leute wahrscheinlich nur gesagt, dass er seine Frau und seine Kinder regelmäßig verprügelt. Mrs. Twelvetrees hat für meine Mutter geputzt. Sie kam oft mit blauen Flecken zur Arbeit. Auch die Mädchen hatten blaue Flecken, wenn sie zur Schule kamen. Aber sie waren nicht so schlimm, dass einer der Lehrer angefangen hätte, Nachforschungen anzustellen. Ich nehme an, wenn es einmal wirklich schlimm war, wurden sie zu Hause festgehalten, bis die blauen Flecken verschwunden waren. Es gab immer wieder Tage, an denen Dilys nicht zur Schule kam. Wenn sie dann wieder da war, hieß es immer, sie hätte eine Erkältung gehabt, aber ich hab sie nie schniefen sehen.«

»Die Schule«, sinnierte Markby.

»Dilys und Sandra Twelvetrees. Zwei kleine rothaarige Mädchen.«

»Ja«, sagte Ruth überrascht.

»Sie hatten rote Haare. Dilys färbt sich die Haare heute noch rot, weil sie ziemlich früh grau geworden ist.« Sie hob die Augenbrauen.

»Aber woher wissen Sie das?«, fragte sie.

»Geraten«, sagte Markby geheimnisvoll, während er an die Fotografien auf dem Kaminsims im Haus der Twelvetrees’ dachte. Drei kleine Kinder, alle rothaarig, und das Foto von Sandra, die für die Kamera in Disneyland posierte, das Foto, auf dem die Sonne ihre roten Haare leuchten ließ wie Feuer.

Der Pflichtverteidiger, ein blassgesichtiger, ernst dreinblickender junger Mann, sah unglücklich aus.

»Meine Mandantin möchte Ihre Fragen offen und ohne Vorbehalt beantworten. Nichtsdestotrotz werde ich sie darauf hinweisen, wenn sie nicht dazu verpflichtet ist.«

»Meinetwegen«, erwiderte Pearce gleichmütig. Der Zahn

machte ihm wieder einmal Probleme. Er betastete ihn mit der Zungenspitze und zuckte zusammen. Ginny Holding neben ihm musterte ihn mit einem wissenden Blick.

Pearce zwang sich, nicht mehr an den Zahn zu denken, und konzentrierte sich stattdessen auf die vor ihm liegende Vernehmung.

»Also schön, Dilys, fangen wir am Anfang an. Wann haben Sie herausgefunden, dass Ihr Vater der Sexualtäter von vor zweiundzwanzig Jahren war?«

»Diese Frage müssen Sie nicht beantworten!«, funkte der Pflichtverteidiger, augenblicklich an Dilys gewandt, dazwischen. Und an Pearce gewandt, fuhr er fort:

»Sie haben keine Beweise, dass der verstorbene Mr. Twelvetrees für die Straftaten verantwortlich war! Warum sollte meine Mandantin glauben, dass er der Täter war?«

»Die Schachtel«, grollte Pearce.

»Was für eine Schachtel meinen Sie? Meines Wissens nach ist sie verschwunden. Und falls sie überhaupt je existiert hat …«, fuhr er mit einem selbstgefälligen Grinsen fort,

»dann handelt es sich der Beschreibung nach lediglich um eine Sammlung von Objets trouvés. Der verstorbene Gentleman kann diese Dinge überall gefunden haben, am Boden, irgendwo in den Wäldern.« Pearce stieß ein leises Stöhnen aus. Es versprach wieder einmal einer jener Tage zu werden. Doch Dilys ignorierte den Rat ihres Anwalts.

»Ich hab überhaupt nichts herausgefunden. Ich hab es von Anfang an gewusst. Es fing an, als meine Mutter bettlägerig war. Sie konnte nichts mehr machen, sich nicht selbst waschen und kaum selbst essen. Sie wurde dicker und dicker, und Dad hasste sie dafür. Er stand in der Tür zum Schlafzimmer und hat sie beschimpft. Aber er ist nie weiter als bis zur Tür gekommen, dafür hab ich gesorgt. Ich bin nach Hause zurückgekommen und hab dort gewohnt, weil mein Mann mich verlassen hat. Er ist mit einer Kellnerin weggelaufen, mit irgend so einer Schlampe, die im Pub in unserem Dorf gearbeitet hat. Viel Glück für sie, sage ich, und Gott sei Dank, dass der Kerl weg ist! Ich wusste nicht, wo ich sonst hingekonnt hätte, also bin ich wieder nach Hause gegangen. Ma hat sowieso nur noch im Bett gelegen. Irgendjemand musste sich um sie und ihn kümmern, den alten Mistkerl. Es hat jedenfalls alles gepasst. Aber dann hat er mit diesen Kapriolen im Wald angefangen.«

»Mrs. Pullen …«, flehte der Verteidiger.

»Es ist unklug und unnötig, diese Fragen zu beantworten.«

»Was haben Sie für Ihren Vater empfunden, Dilys?«, fragte Ginny Holding mit sanfter Stimme.

»Er war ein alter Teufel. Und als er jung war, war er ein junger Teufel. Wir hatten alle Angst vor ihm, wir Kinder. Man musste ihm nur falsch in die Augen sehen, und schon hatte man eins hinter den Ohren. Wenn er betrunken aus dem Pub nach Hause kam, ist er die Treppe raufgekommen, hat uns aus den Betten gezerrt und vermöbelt.«

»War das alles, was er getan hat, Dilys?«, fragte Ginny leise.

»Wenn er zu Ihnen ins Kinderzimmer kam?« Dilys funkelte sie an.

»Reicht das vielleicht nicht? Ma klammerte sich an seinen Arm und bettelte ihn an, uns in Ruhe zu lassen, und er hat sie mit der Faust ins Gesicht geschlagen! Mein Bruder William, der, den sie Young Billy nennen, ist mit siebzehn weggegangen. Er ist zur See gefahren, nur um rauszukommen. Meine Schwester hat einen Soldaten geheiratet und ist mit ihm nach Deutschland gegangen. Ich hab den kurzen Strohhalm gezogen, wie es aussieht.« Dilys’ Blick, hart wie Glas, begegnete dem von Dave Pearce.

»Die Angst verschwindet nicht einfach so, wenn man älter wird. Ich war vielleicht zu groß geworden, um von ihm verprügelt zu werden, aber ich hatte immer noch Angst vor ihm. Er hatte ein Druckmittel gegen mich, verstehen Sie? Ich wusste nicht, wo ich sonst hätte wohnen sollen. Ich wusste nicht wohin. Ich musste alles mitmachen, was er sich einfallen ließ.« Dilys’ war leiser geworden, und ihr Blick ging zu ihren Händen, die auf dem Tisch ruhten.

»Ich wusste immer, wann er unterwegs gewesen ist und mit diesen dummen Mädchen rumgemacht hat. Ich konnte es riechen, wenn er nach Hause kam. Ich hab es an seinen Sachen gerochen, wenn ich die Wäsche gewaschen hab. Ich hab die Flecken gesehen. Er zeigte mir die Sachen, die er den Mädchen abgenommen hatte. Er mochte wohl den Ausdruck in meinem Gesicht. Er mochte es, dass er mir alles erzählen konnte, ohne Angst haben zu müssen, dass ich damit zur Polizei gehen würde. Er war ein gemeiner alter Mistkerl, und das ist eine Tatsache. Aber ich habe mich um Ma gesorgt, und ich wollte nicht, dass sie etwas davon erfährt. Sie hatte ein richtiges Hundeleben bei ihm. Sie war vollkommen fertig, und sie konnte nicht noch mehr Ärger vertragen. Ich hatte überhaupt keine Zeit, mir wegen dieser anderen Mädchen den Kopf zu zerbrechen.«

»Hat er Sie ebenfalls belästigt, Dilys?«, fragte Ginny Holding leise. Dilys eisiger Blick wanderte zu ihr.

»Er stand wahrscheinlich nicht auf mich, schätze ich. Ich war nie etwas anderes als ein dicker Klumpen, der kochen und putzen konnte.«

»Nichtsdestotrotz haben Sie bei ihm und unter seinem Dach gewohnt. Sie waren nicht in der Position zu protestieren, wie Sie selbst gesagt haben. Es wäre nicht weiter überraschend, wenn er das ausgenutzt hätte, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Ich verstehe sehr genau, was Sie meinen!« Dilys’ Mund klappte zu wie eine Falle. Schweigen breitete sich aus. Dilys sah nicht aus, als wollte sie noch etwas sagen. Ihre Augen blickten leer. Pearce gab Ginny Holding einen Wink. Es war nicht gut, wenn Dilys ausgerechnet jetzt anfing zu schweigen.

»Was geschah, nachdem Ihre Mutter gestorben war?«, fragte Ginny leise. Dilys blinzelte, und verschlagenes Misstrauen kehrte in ihre Mimik zurück.

»Nachdem Ma gestorben war? Was hätte ich tun sollen? Ich blieb da. Ich hab für ihn gekocht und geputzt. Er hat nicht ein einziges Mal Danke gesagt, nicht ein Wort. Ich wusste immer noch nicht, wo ich hinsollte, und solange Dad am Leben war und im Cottage wohnte, hatte ich ein Dach über dem Kopf. Ich wusste, dass der alte Mr. Jones Dad nicht auf die Straße setzen würde, und ich wusste auch, dass Kevin es nicht tun würde, jedenfalls nicht, solange Martin Jones am Leben war. Aber Martin Jones wurde älter, genau wie Dad. Wenn der alte Jones gestorben wäre, hätte der junge uns vielleicht rausgeworfen. Oder wenn Dad gestorben wäre. Ich war schließlich nicht die Mieterin. Das war Dad. Ich wusste, dass Dad niemals in ein Altersheim gehen würde. Er wollte nicht mal ins Krankenhaus. Also war es in meinem eigenen Interesse, mich um den alten Teufel zu kümmern und ihn am Leben zu halten, oder?« Ihr ausdrucksloser Blick wanderte wieder zu Pearce. Dave spürte, wie in ihm eine Depression aufstieg.

»Also schön«, sagte er leise.

»Erzählen Sie mir von Simon Hastings.«

»Dad hat ihn nicht umgebracht!«, rief sie überraschend vehement.

»Nicht absichtlich! Nicht so, wie Sie meinen! Es war ein Unfall. Hätte jedem passieren können!«

»Erzählen Sie weiter.« Dilys hatte aufgehört zu reden, als erwartete sie, dass Pearce Zustimmung äußern würde.

»Wieso war es ein Unfall?«, fragte er stattdessen. Der Anwalt mischte sich erneut ein.

»Meine Mandantin vermag es nicht zu sagen, weil sie es nicht weiß. Sie war nicht dabei, als Simon Hastings starb.«

»Ich weiß, was Dad mir erzählt hat!«, sagte Dilys aufsässig in seine Richtung.

»Selbstverständlich, Mrs. Pullen, aber Sie wissen nicht, ob es tatsächlich so gewesen ist. Sie waren keine Zeugin. Ihr Vater hat Ihnen möglicherweise nicht alles gesagt oder seinen Bericht beschönigt.«

»Sie meinen, er hat mich belogen?« Dilys funkelte den Anwalt an.

»Und was soll ich jetzt tun? Hier sitzen und den Mund halten und diese Bullen glauben lassen, dass Dad den Kerl umgebracht hat? Er hat es nämlich nicht getan. Er hat es mir erzählt, und ich schätze, er hat die Wahrheit erzählt. Woher ich das wissen will? Weil er Angst hatte, deshalb weiß ich es! Irgendwas war passiert, womit er nicht gerechnet hatte, verstehen Sie? Sie kannten meinen Vater nicht, aber ich kenne ihn! Sie haben ihn nicht gesehen an jenem Abend, als er nach Hause kam und mir erzählte, was passiert war. Er zitterte am ganzen Leib, und er war weiß wie ein Bettlaken!« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Pearce und Holding zu.

»Dad war Miss Pattinson begegnet, wie sie damals hieß, nicht wahr? Sie war aus dem Wald gekommen und hatte geweint. Dad wusste, dass sie nicht dem Kartoffelmann begegnet war, weil er der Kartoffelmann war. Sie hat ihm erzählt, dass sie wegen ihrer Mutter geweint hätte, die kurz davor gestorben war, aber Dad hat es ihr nicht geglaubt. Er war neugierig. Er ging in den Wald und traf diesen Kerl, diesen Wanderer. Der Kerl sah eigenartig aus, als hätte er sich über irgendwas geärgert oder so, meinte Dad. Dad fragte ihn, ob er der Grund wäre, warum Miss Pattinson weggelaufen wäre und weinen würde. Und der Kerl hat ihn angegriffen, einfach so. Hat nach Dad geschlagen, und Dad hat sich unter dem Schlag weggeduckt und ihm selbst eins verpasst. Der Kerl ging zu Boden und schlug mit dem Kopf gegen einen umgekippten Baumstamm. Das war alles. Er war tot, mausetot. Dad bekam es mit der Angst zu tun, als ihm bewusst wurde, dass er eine Leiche vor sich liegen hatte. Er deckte den Toten mit Zweigen und Ästen zu und kam nach Hause. Dann, noch am gleichen Abend, ist er mit einem Spaten zurück in den Wald und hat ihn begraben. Und ich weiß, dass es so war!«, fügte Dilys mit einem wütenden Funkeln in Richtung ihres gesetzlichen Beistands hinzu,

»weil ich damals dabei war! Er hat mich mitgenommen!« Der Anwalt meldete sich mit Verzweiflung in der Stimme zu Wort.

»Mrs. Pullen, ist Ihnen bewusst …?« Dilys drehte sich zu ihm.

»Sie müssen mich nicht dauern ›Mrs. Pullen‹ nennen, ja? Ich bin Dilys Twelvetrees. Ich bin auf diesen Namen getauft worden, und ich heiße immer noch so!«

»Wurden Sie von Mr. Pullen geschieden?«, fragte Ginny Holding. Dilys starrte sie verächtlich an.

»Wozu denn? Er war weg! Was für einen Sinn hätte eine Scheidung gemacht?«

»Dann sind Sie rein technisch betrachtet immer noch Mrs. Pullen«, sagte Ginny.

»Ich bin Dilys Twelvetrees!«, wiederholte Dilys halsstarrig.

»Ich war nie stolz auf den Namen, aber er ist immer noch besser als Pullen, jeden einzelnen Tag, den Gott erschaffen hat!«

»Ich glaube nicht, dass es eine Rolle spielt, ob Dilys ihren Mädchennamen wieder angenommen hat oder nicht«, sagte Dave Pearce entschieden mit einem irritierten Blick an Ginny Holdings Adresse.

»Also, Sie sind zusammen mit Ihrem Vater nach Stovey Woods zurückgekehrt in jener Nacht und haben ihm geholfen, Simon Hastings zu begraben?«

»Mrs. … Mrs. Twelvetrees!«, sagte der Anwalt laut.

»Sie müssen diese Frage nicht beantworten! Sie haben bereits viel zu viel gesagt!«

»Halten Sie den Mund!«, sagte Dilys zu ihm.

»Ich weiß selbst, was ich beantworten muss und was nicht.«

»Wir haben das alles besprochen, Mrs. Pul-Twelvetrees! Ich habe Ihnen erklärt …«

»Ich weiß, was Sie erklärt haben!« Dilys wandte sich wieder zu Pearce um.

»Dad hat mich gebraucht, damit ich ihm die Laterne halte. Außerdem hat er gewusst, wenn ich ihm helfe, kann ich nicht mehr mit irgendjemandem darüber reden, oder? Ich war mit dabei, oder nicht?« Ihr Gesichtsausdruck wurde verträumt, und als sie diesmal weiterredete, klang ihre Stimme verändert. Sie hatte den fesselnden Tonfall eines traditionellen Geschichtenerzählers angenommen, weicher, eine Einladung an die Zuhörenden. Pearce wurde bewusst, dass sie sich alle nach vorne gebeugt hatten, selbst der Anwalt, und an ihren Lippen hingen in dem Wissen, dass sie im Begriff standen, etwas zu erfahren, das sie niemals wieder vergessen würden.

»Dad war ziemlich sicher, dass er die Stelle finden würde, wo er den Kerl zurückgelassen hatte. Aber es war pechschwarze Nacht im Wald. Man konnte die Hand vor Augen nicht sehen, und nichts sah aus wie tagsüber. Wir hatten nur die Laterne dabei, eine Öllaterne, mehr nicht. Die Schatten sprangen zwischen den Bäumen hin und her wie böse Kreaturen, die in der Dunkelheit um uns herumtanzten. Wir haben ein paar Mal an der falschen Stelle angehalten, bevor wir dort ankamen, wo der Tote nach Dads Meinung liegen musste. ›Hier irgendwo ist es, Dilys‹, sagte er zu mir. ›Geh und sieh dich um.‹ Na ja, ich hatte nicht die geringste Lust, unter den Bäumen rumzulaufen, ohne zu wissen, was da draußen lauerte, und über einen Toten zu stolpern. Also hielt ich die Laterne hoch und leuchtete damit herum, und ich will verdammt sein – da war sie!« Der Anwalt sog hörbar die Luft ein. Ginny Holding war in gebannter Aufmerksamkeit erstarrt. Pearce spürte einen Schauer der Erwartung.

»Sie meinen die Leiche?«, flüsterte er. Dilys bedachte ihn mit einem eigenartigen, spöttischen Blick.

»Nein, nicht die Leiche. Die Hand.«

»Die Hand?«, ächzte der Anwalt.

»Ja, die Hand. Sind Sie taub? Ich hab einen Arm gesehen und die Hand am Ende. Sie zeigte hinauf in die Bäume. Sie ragte aus einem Haufen von Blättern und Ästen, die Dad über den Toten gezerrt hatte, und zeigte nach oben in den Himmel wie ein Wegweiser, der uns sagen wollte, wo er lag. ›Du hast ihn lebendig begraben‹, sagte ich zu Dad. ›Er hat sich bewegt! Er hat versucht, sich aus dem Grab zu befreien!‹ ›Nein, hat er nicht!‹, sagte Dad. Er meinte, es wäre die einsetzende Leichenstarre gewesen.«

»Gütiger Gott!«, murmelte der Anwalt. Dilys, die seinen Ausruf möglicherweise als Mangel an Begreifen interpretiert hatte, setzte zu einer Erklärung an.

»Leichenstarre ist das, was passiert, wenn jemand gestorben ist. Dad hat es bei Schafen und Vieh gesehen. Die Gliedmaßen werden steif und stehen in alle möglichen Richtungen ab. Der Arm von diesem Kerl stand einfach so in der Luft, als hätte er ein Eigenleben. Die Blätter, mit denen Dad ihn zugedeckt hatte, waren nicht schwer genug gewesen, um ihn festzuhalten. Aber Dad war sauer, weil er ihn nicht so einfach begraben konnte mit dem abstehenden Arm und so. Also holte er mit dem Spaten aus und versetzte ihm einen mächtigen Schlag. Ich hab gehört, wie die Knochen brachen, aber der Arm ging nicht runter, weil die Muskeln ihn an Ort und Stelle hielten. Dad hat wie ein Irrer auf ihn eingeprügelt, bis er endlich flach am Boden lag. Dann hat er sich gebückt und den Siegelring genommen, der an einem der Finger war. Er meinte, er würde gut zu den anderen Sachen passen. Ich sagte ihm, er wäre ein Narr. Der Ring war ein Beweisstück. Er sagte nur, ich solle die Klappe halten. Aber ich hatte Recht, nicht wahr? Der Ring war ein Beweisstück?« Dilys’ Frage war an den überraschten Anwalt gerichtet.

»Das war er doch?«

»Sie hatten Recht«, sagte der Anwalt schwach. Sie schien zufrieden und nickte.

»Und dann hat Dad ein Grab ausgehoben, an einer anderen Stelle. Wir haben den Kerl hingerollt und zugedeckt. Am Ende haben wir noch den umgestürzten Baumstamm über die Stelle gezerrt, damit er nicht von irgendeinem Tier wieder ausgegraben werden kann. Wir haben trockene Blätter über die Stelle gestreut, wo der Baum vorher gelegen hat, damit niemand bemerkt, dass er nicht mehr am alten Platz liegt. Mit der Zeit muss irgendwas trotzdem Teile von ihm ausgegraben haben, weil dieser Doktor die Knochen in einem Fuchsbau gefunden hat, jedenfalls habe ich gehört, wie er das dem Coroner erzählt hat. Und der Coroner war der Meinung, dass es sich um einen Unfall gehandelt hat, oder? Er hat gesagt, es gäbe keine Beweise für ein Verbrechen. Sie versuchen jetzt was anderes daraus zu machen, aber der Coroner hat schon gesagt, es war keins. Wir sind nach Hause gegangen, Dad und ich, und zum ersten Mal in meinem Leben hab ich mich gegen ihn gestellt. Ich hab ihm gesagt, dass er keinen Unsinn mehr machen sollte mit den Frauen oben im Wald oder auf der alten Viehtrift. Wenn jemals was rauskommen würde, hab ich ihm gesagt, dann würde die Polizei nie im Leben glauben, dass der tote Wanderer ein Unfall war. Sie würde glauben, dass Dad ihn ermordet hätte, weil er Dad dabei gesehen hätte, wie er was mit einem Mädchen gemacht hatte. Und Dad hat so einen Schrecken bekommen, dass er nachgegeben hat, ohne zu widersprechen. Ohne einen Ton. Das war das Ende des Kartoffelmanns.« Pearce bemerkte, dass er den Atem angehalten hatte. Jetzt stieß er ihn in einem langen Seufzer aus.

»Erzählen Sie mir von Hester Millar«, sagte er. Dilys seufzte gleichermaßen und ließ die Schultern hängen.

»Ach, das. Das war einfach nur Pech. Sie war so eine nette Lady. Ich hatte nichts gegen sie. Aber sie kam an diesem Morgen einfach rein und überraschte Dad dabei, wie er mit den Sachen in der alten Schachtel rumhantiert hat. Er wollte sie nie wegwerfen. Er hat sie gerne rausgenommen und auf dem Tisch ausgebreitet. Er nahm sie in die Hand, eins nach dem anderen, drehte sie in den Fingern und dachte an das Mädchen, dem er sie abgenommen hatte, während er die ganze Zeit leise vor sich hin kicherte. Ich hab ihn dafür gehasst. Ich hatte immer Angst, eines Tages könnte jemand reinplatzen und ihn dabei überraschen, und ich hatte Recht! Weil genau das passiert ist. Miss Millar ist einfach so reingeplatzt. Sie erschien aus heiterem Himmel an dem Morgen. Sie kam hintenrum, direkt in die Küche. Sie rief nur: ›Ich bin’s!‹, und dann war sie drin. Sie hatte ein Glas Marmelade mitgebracht für uns. Sie war eine ziemlich gute Köchin. Sie hat die Marmelade auf den Tisch gestellt, wo Dad zufrieden mit sich und der Welt mit seiner Schachtel saß, und dann hat sie gesehen, was auf dem Tisch lag und was er da gemacht hat, all die kleinen Schmuckstücke und so. Sie wollte wissen, was das für Sachen wären. Dad meinte, er hätte das Zeug im Wald gefunden. Dann hat sie den Ring bemerkt und mit ganz komischer Stimme gefragt: ›Wo haben Sie den her, Mr. Twelvetrees? Haben Sie den auch im Wald gefunden?‹ In dem Augenblick hab ich gewusst, einfach nur gewusst, wegen ihrer Stimme und ihrem Benehmen, dass der Ring irgendwas für sie bedeutet haben muss. Dass sie ihn wiedererkannt hat. Mir ist das Herz in die Hose gerutscht. Ich dachte, wenn ich sie nicht zum Schweigen bringe, dann würde sie reden und alles würde rauskommen, nach so vielen Jahren, und Dad würde ins Gefängnis kommen. Jeder im Dorf würde die Wahrheit erfahren. Kevin Jones würde mich aus dem Cottage werfen. Ich hatte keine andere Wahl, ich musste ihr zur Kirche folgen und sie zum Schweigen bringen. Sie hat auf der Bank gekniet und gebetet, als ich reinkam. Ich rief ihr leise zu, dass ich es wäre, Dilys, und sie hat sich nicht mal nach mir umgedreht. Es war ganz einfach. Ich hatte schon mal mehr Schwierigkeiten, ein Huhn zu schlachten. Ich hab’s nicht gerne getan, glauben Sie das nur nicht! Aber wie ich das sehe, hatte ich überhaupt keine andere Wahl. Dann bin ich nach Hause gegangen und hab Dad erzählt, dass ich es getan hab und dass er sich keine Sorgen mehr machen müsste, sie könnte irgendjemand was von dem Ring erzählen. Dad hat mich beschimpft und mich eine dumme dicke Steckrübe genannt und gefragt, warum um alles in der Welt ich sie umgebracht hätte. Ich hab gesagt, wegen ihm, warum denn sonst? Es war alles seine Schuld. Er meinte nur, ich hätte noch nie irgendwas richtig gemacht, und was, wenn ich sie nur verwundet hätte und jemand sie ins Krankenhaus brächte? Sie würde wissen, dass ich es getan hätte. Wir haben eine Weile gewartet, ob drüben bei der Kirche irgendwas passiert und ob jemand sie findet. Aber nichts ist passiert, und Dad wurde unruhig. Er ging rüber, um nachzusehen, aber sie war wirklich tot, also hat er gemacht, dass er wieder verschwindet. Verstehen Sie? Dad wollte nicht derjenige sein, der sie gefunden hat, und Fragen von der Polizei beantworten. Er konnte sich gerade noch rechtzeitig in Sicherheit bringen, als diese Freundin von dem Superintendent aufgetaucht ist und Miss Millar gefunden hat. Also hab ich es doch richtig gemacht, oder? Man hätte meinen sollen, der alte Teufel wäre ein wenig dankbar. Ich schätzte, ich hätte es ziemlich gut hingekriegt. Wenn Dad mehr Vertrauen zu mir gehabt hätte und nicht rübergelaufen wär zur Kirche, um selbst nachzusehen, dann hätte Miss Mitchell ihn nicht auf dem Friedhof gesehen, und Mr. Markby wär nicht rüber zu unserem Cottage gekommen, um Fragen zu stellen. Ich hab Dad gesagt, als Mr. Markby wieder weg war, dass er von jetzt an alles mir überlassen soll. Ich hab gedacht, ich hätte die Probleme ziemlich gut gelöst.«

»Sie wollen doch wohl nicht behaupten, dass Sie eine Rechtfertigung für den Mord an Miss Millar hatten!«, unterbrach Ginny Holding sie ungläubig. Dilys schniefte.

»Aber es hätte unser Problem gelöst, oder nicht? Wenn es damit wirklich zu Ende gewesen wäre. Aber ich hatte wie üblich Pech, und es war nicht das Ende. Diese neugierigen Leute, die ihre Nasen in alles reinstecken müssen, die machen immer Scherereien. Diese Freundin von Mr. Markby, sie hat das Gleiche gemacht wie Miss Millar. Man hat überhaupt keine Privatsphäre mehr in seinem eigenen Haus. Dad hatte einen Anfall auf dem Friedhof, und sie hat ihn nach Hause gebracht. Sie ist durch die Küchentür rein, um vorne für ihn aufzusperren. Dad, der alte Narr, hatte die Hintertür offen gelassen, und alle Sachen lagen auf dem Tisch. Ich bin drei oder vier Minuten, nachdem Mr. Markbys Freundin gegangen war, zurück nach Hause gekommen. Dad hat in seinem Sessel gesessen. Er hat mir erzählt, dass er einen Anfall gehabt und dass die Lady aus der Stadt ihn nach Hause gebracht hätte. Ich wusste, dass sie durch die Hintertür reingekommen war und alles gesehen haben musste. Ich bin nach draußen gerannt und hab sie gesehen, wie sie über die Straße zum Wald marschiert ist. Also bin ich ihr hinterher, auf der anderen Seite der Steinmauern entlang der Straße, über die Felder. Ein paar Mal hätten mich die blöden Schafe fast verraten, als sie vor mir weggerannt sind. Aber es hatte inzwischen angefangen zu regnen, und ich schätze, der Regen war so stark, dass die Freundin vom Superintendent sich mehr wegen dem Regen als wegen der Mätzchen von ein paar blöden Schafen Sorgen gemacht hat.«

»Und Sie haben tatsächlich eine Frau ermordet und eine weitere zu ermorden versucht, um jemanden wie Ihren Vater zu schützen?«, fragte Holding mit verzweifelter Stimme. Dilys blickte sie beleidigt an.

»Sie haben nicht zugehört! Ich hab Ihnen erzählt, dass ich das Cottage verloren hätte! Wie würde es Ihnen gefallen, Ihr Haus zu verlieren? Außerdem hab ich gedacht, dass ich vielleicht selbst in Schwierigkeiten kommen könnte, weil ich über die Frauen Bescheid wusste von damals, all die Frauen, und nichts gesagt hab. Und weil ich Dad geholfen hab, diesen Kerl zu begraben. Aber das war nicht meine Idee. Dad wollte, dass ich ihm helfe.« Sie begegnete Pearces Blick und fuhr ernst, beinahe feierlich fort:

»Ich hab das doch alles gar nicht gewollt. Das war alles ganz allein Dads Schuld.« Nach ein paar Sekunden des Schweigens sagte Pearce mit rauer Stimme:

»Danke sehr, dass Sie uns alles erzählt haben, Dilys. Das war gut so.« Doch Dilys hatte noch eine letzte Frage.

»Komme ich jetzt ins Gefängnis?« Sie klang nicht besorgt, eher neugierig.

»Wenn Sie verurteilt werden.«

»Ich hab nämlich nachgedacht«, sagte sie gelassen.

»Jetzt, wo Dad tot ist, wird Kevin mich ganz bestimmt aus dem Cottage werfen. Aber wenn ich für eine hübsche lange Zeit ins Gefängnis komme, dann hab ich doch ein Dach über dem Kopf, oder nicht?«

»Ich möchte auf der Stelle unter vier Augen mit Ihnen reden, Inspector!«, sagte der Pflichtverteidiger. Im Korridor draußen vor dem Vernehmungszimmer durchbohrte der Pflichtverteidiger Inspector Pearce mit wütenden Blicken.

»Ich möchte in aller Deutlichkeit darauf hinweisen, dass meine Mandantin gegen meinen ausdrücklichen Rat so frei zu Ihnen gesprochen hat. Ich habe sie davor gewarnt, ein Geständnis abzulegen, und ich werde ihr raten, es zu widerrufen.«

»Aber warum denn?«, fragte Pearce unverblümt.

»Gütiger Gott, Mann! Da müssen Sie noch fragen? Ihre Gründe für dieses Geständnis sind äußerst suspekt, um es gelinde auszudrücken! Sie möchte, dass man sie ins Gefängnis schickt, weil sie dort, wie sie sagt, ein Dach über dem Kopf hat! Wenn Sie vorhaben, aufgrund dieser Aussage vor Gericht zu gehen, dann lassen Sie sich von mir eines gesagt sein: Ich werde dafür sorgen, dass die Geschworenen ihre Beweggründe für dieses Geständnis erfahren! Wenn ein Richter sie so reden hört, dann wird er der Jury wahrscheinlich sagen, ihre Aussage nicht zu beachten.« Pearce war geneigt, ihm zuzustimmen, doch das sagte er nicht. Stattdessen sagte er:

»Sie können nicht abstreiten, dass sie Miss Mitchell angegriffen hat.«

»Das mag sein. Sie hat sie nicht umgebracht. Und dass sie jene andere Frau, Miss Millar, umgebracht hat, ist etwas, wofür wir einzig und allein ihr Wort haben. Wahrscheinlich hat ihr alter Vater es getan. Er war ständig in dieser Kirche, das hat mir seine Tochter gesagt. Er hat sich gerne mit den beiden Kirchenvorsteherinnen unterhalten, von denen Miss Millar eine war. Sie können nichts von um, was Dilys Twelvetrees erzählt hat, für bare Münze nehmen, und das ist mehr oder weniger alles. Was diese Geschichte von dem verscharrten Wanderer in den Wäldern angeht …«

»Erzählen Sie mir jetzt bloß nicht, dass sie sich die grausigen Einzelheiten aus den Fingern gesaugt hat!«, stieß Pearce hervor. Der Anwalt starrte ihn für einen Moment überrascht an.

»Nun ja, wir … wir dürfen jedenfalls nicht glauben, dass sie dabei gewesen ist, nur weil sie es behauptet. Der alte Mann kann genauso gut nach Hause gekommen sein und ihr davon erzählt haben. Genauso, wie er nach Hause gekommen sein und ihr erzählt haben kann, dass er Hester Millar erstochen hat. Oder vielleicht hat auch keiner von beiden es getan. Verstehen Sie denn nicht, Inspector? Mrs. Pullen hat entsetzliche Angst davor, ihr Obdach zu verlieren. Jetzt, nachdem ihr Vater tot ist, erscheint ihr das Gefängnis wie ein sicherer Hafen. Die Frau ist offensichtlich nicht ganz richtig im Kopf!«

»Das festzustellen überlassen wir einer Jury, meinen Sie nicht?«, schlug Pearce vor. Der Anwalt schnaubte.

»Dieser ganze Quatsch ist auf der Existenz einer verschwundenen Schachtel mit Trophäen aufgebaut!«

»Die Miss Mitchell gesehen hat und beschreiben kann.«

»Aber auch Miss Mitchell«, sagte der Anwalt gehässig,

»auch Miss Mitchell kann die fragliche Schachtel nicht vorweisen.« Pearce musterte den Anwalt misstrauisch.

»Verraten Sie mir doch, warum Sie so darauf bedacht sind, Dilys loszueisen?«

»Es ist mein Job«, erwiderte der Anwalt aalglatt.

»Es steckt mehr dahinter.« Der junge Mann bedachte Pearce mit einem gemeinen Blick.

»Also schön. Sie ist arm und ungebildet. Sie ist im mittleren Alter, unattraktiv und sich der Folgen dessen, was sie sagt, absolut nicht bewusst. Sie wurde als Kind misshandelt und ist unter der Fuchtel dieses bösartigen alten Mannes aufgewachsen. Trotz ihrer Ausflüchte glaube ich, dass er sie und ihre Schwester als Kinder sexuell missbraucht hat und nach dem Tod ihrer Mutter wahrscheinlich erst recht. Sie werden bemerkt haben, dass sie jeglichen Fragen in dieser Hinsicht ausgewichen ist. Ihr Vater hat sie geprügelt, das ist alles, was sie zuzugeben bereit ist.«

»Wenn sie es nicht erzählen will, wird sie es nicht erzählen«, sagte Pearce nachdenklich.

»Versuchen Sie lieber nicht, Ihre Verteidigungsstrategie darauf aufzubauen.« Der Anwalt fixierte Pearce mit glitzernden Blicken.

»Wenn Menschen wie sie das Gesetz übertreten und in das System geraten, sind sie nicht im Stande, sich zu verteidigen. Alles, was sie tun oder sagen, macht es nur noch schlimmer. Sie machen einen schlechten Eindruck auf jede Jury. Ja, ich werde verdammt noch mal mein Bestes geben, um sie von dieser Mordanklage loszueisen. Und Sie wissen sehr genau, dass Sie mehr brauchen werden als nur dieses Geständnis. Sie werden Beweise brauchen!« Er stapfte davon. Pearce trottete nach oben zu Markbys Büro. Der Superintendent blickte auf, als der Inspector erschien.

»Läuft nicht so gut, Dave, wie?«

»Sehen Sie es so, Sir«, erwiderte Pearce, während er sich den Kiefer rieb.

»Sie hat gestanden, aber wir haben Pech, weil ihr Anwalt auf einem Kreuzzug gegen das System ist.« Er erklärte und fasste zusammen, was die Vernehmung von Dilys Twelvetrees ergeben hatte.

»Er macht nur seinen Job«, sagte Markby, als Pearce geendet hatte.

»Wie er gesagt hat. Und wir machen unseren.«

»Herablassender, aufgeblasener Privatschulenabsolvent!«, schnaubte Pearce.

»Entschuldigung, Sir. Ich meinte den Anwalt, nicht Sie.«

»Danke, Dave, ich weiß es zu schätzen, dass Sie das deutlich gemacht haben.«

»Ich meine ja nur«, beharrte Pearce.

»Ich nehme nicht an, dass es Dilys gefallen hätte, zuzuhören, wie er sie unter vier Augen dargestellt hat. Außerdem irrt er sich. Er redet so daher, als wäre sie geistig zurückgeblieben, aber das ist sie nicht. Sie ist eine kaltblütige Mörderin, und sie ist so einfallsreich wie eine Wagenladung voller Affen, wie meine Großmutter immer gesagt hat. Sie tanzt diesem Anwalt nach Belieben auf dem Kopf herum, und jetzt spielt sie ihr Spielchen mit uns.«

»Sie meinen ihre letzte Bemerkung, dass sie ins Gefängnis möchte?«, fragte Markby.

»Genau, Sir! Ihr Geständnis ist vollkommen wertlos! Sie hat es in dem Augenblick wertlos gemacht, als sie gesagt hatte, dass sie ins Gefängnis möchte, um ein Dach über dem Kopf zu haben. Und mehr noch, sie wusste es, und sie brauchte keinen Anwalt, der es ihr sagen musste!«, schnaubte Pearce aufgebracht. Markby nickte zustimmend.

»Ein Geständnis ohne Beweise, die es untermauern, ist in jedem Fall wertlos. Wir müssen diese Schachtel mit den Trophäen des alten Mannes finden.«

»Wir stellen dieses Cottage auf den Kopf, Sir!«, protestierte Pearce. Markby schwieg. Der Kartoffelmann war der Gerechtigkeit entschlüpft, für immer. Und die Tochter entging vielleicht ebenfalls einer Mordanklage, wenn es nach ihrem eifrigen Anwalt ging – es sei denn, sie konnten stichhaltige Beweise für Dilys’ Aussage vorlegen.

»Und wir hatten sie bereits!«, sagte er leise.

»Wir hatten sie, und ich habe es nicht erkannt! Marmelade! Ich hatte Marmelade an meiner Manschette, als ich aus dem Cottage der Twelvetrees’ kam. Dilys stand über den Abfalleimer gebeugt und warf gerade etwas weg. Sie warf dieses Marmeladenglas weg! Wenn Ruth sich direkt erinnert hätte, als ich im Vikariat mit ihr sprach, dass Hester ein Glas Marmelade in der Hand hielt, wäre ich wahrscheinlich direkt auf Dilys Twelvetrees gekommen!« Es war nicht der einzige Hinweis gewesen. Späte Einsicht war eine wunderbare Sache, und Markby reflektierte reumütig, was sie ihm nun alles verriet. Ein weiteres Bild war ihm in den Kopf gestiegen, das von Dilys, die ihm die Tür öffnete, als er zu ihrem Vater gewollt hatte. Bei seinem Anblick hatte sie unverzüglich deklariert, dass sie beide

»nichts damit zu tun« hätten. Er hätte sie direkt an Ort und Stelle fragen sollen, was sie denn meinte? Denn Dilys Twelvetrees hatte nicht unter den Neugierigen bei der Kirche gestanden – woher hatte sie also gewusst, dass es etwas abzustreiten gab? Natürlich bestand die Möglichkeit, dass sie den Kopf durch die Tür gesteckt und von einer Nachbarin die Neuigkeiten erfahren hatte. Doch ihr Abstreiten, noch bevor Markby eine einzige Frage gestellt hatte, erzählte eine andere Geschichte. Es war die typische Reaktion von ihresgleichen auf die bloße Andeutung hin, sie könnte für irgendetwas verantwortlich sein, das Ärger nach sich zog. Er hätte spüren müssen, dass ihre Abwehrreaktion bei seinem Anblick bedeutete, dass sie etwas zu verbergen hatte und dass der Gebrauch von

»Wir« bedeutete, dass beide gemeint waren, sowohl Dilys als auch der alte Mann. Es klopfte an der Tür.

»Sir?« Das war Ginny Holdings Stimme, und Sekunden später streckte sie den Kopf herein Sie wirkte aufgeregt.

»Entschuldigung, wenn ich störe, aber ich dachte, das hier würden Sie gerne erfahren.« Ginny genoss den Augenblick des Triumphs. Sie zögerte, bevor sie die Tür zu Markbys Büro ganz aufstieß, sodass Markby sehen konnte, was sie in den Händen hielt. Es war eine rußverschmierte alte Schuhschachtel.

»Wir haben sie eben bekommen! Unsere Leute haben sie im Schornstein gefunden! Alles ist noch drin, Sir, der Ring, die Perlenschnur, einfach alles!« Auf Markbys Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.

»Gut gemacht, Ginny!«

»Großartig«, sagte Pearce mit dumpfer Stimme. Markby sah ihn an. Er hielt sich schon wieder die Backe.

»Herrgott noch mal, Dave!«, schimpfte Markby müde.

»Warum gehen Sie nicht endlich zum Zahnarzt? Gleich morgen früh als Erstes! Und wenn Sie fertig sind, kommen Sie zu mir. Wir haben einen neuen Fall, in dem wir ermitteln müssen.«

»Was?« Pearce starrte seinen Boss verblüfft an.

»Kommen Sie, Dave! Sie haben selbst gesagt, dass diese Frau eine kaltblütige Mörderin ist! Mr. Pullen und seine Freundin, die Kellnerin, sind beide über Nacht verschwunden und wurden nie wieder gesehen. Dilys hat sich nie die Mühe gemacht, eine Scheidung einzureichen. Das war auch nicht nötig, nicht wahr, wenn sie gewusst hat, dass er tot ist? Sehen Sie, das gleiche Szenario hat sich in diesem Pub in den letzten Wochen wiederholt. Norman Stubbings ist seiner Ehefrau Evie überdrüssig und hat sich mit Cheryl Spencer vergnügt. Der Unterschied ist, dass Evie nicht mit einem Küchenmesser auf Norman losgegangen ist – noch nicht. Nun, Dave, wir haben Arbeit. Fangen wir an.« Draußen vor dem Büro wandte sich ein entsetzter Inspector Pearce an Sergeant Holding.

»Das meint er doch wohl nicht ernst, oder? Ich soll schon wieder diesen dämlichen alten Wald umgraben?«

KAPITEL 17

ROGER WAR draußen im Garten, als Markby vor dem alten Vikariat aus dem Wagen stieg. Als er den Besucher entdeckte, stieß er zum Gruß ein hysterisches Bellen aus und rumpelte in Richtung Tor. Als er dort angekommen war, stand er auf den Hinterbeinen, hängte die riesigen Pfoten über den obersten Balken und sabberte glücklich vor sich hin. Markby tätschelte ihm den Kopf, was Roger förmlich in ein Delirium zu treiben schien, und sagte:

»Ich bin gekommen, um mit deinem Frauchen zu reden. Wenn du nichts dagegen hast und vom Tor weggehen würdest, damit ich reinkann?« Roger bellte erwartungsvoll und machte keine Anstalten, sich zu bewegen. Er war zu schwer, um das Tor einfach aufzustoßen. Glücklicherweise hatte sein Frauchen den Aufstand mitbekommen und näherte sich nun aus Richtung Haus.

»Oh, Sie sind es«, sagte sie, als sie Markby erspähte.

»Warten Sie, ich lasse Sie rein.« Sie schlang die Arme um Rogers Hals und zog ihn vom Tor herunter.

»Kommen Sie«, ächzte sie angestrengt. Markby öffnete hastig das Tor, schlüpfte hindurch und schloss es hinter sich wieder fest. Roger wand sich heftig im Schwitzkasten, in dem Muriel Scott ihn gefangen hielt.

»Gehen Sie nach drinnen!«, rief sie Markby zu.

»Die Vordertür ist nicht versperrt. Sobald Sie drin sind, komme ich hinterher und sperre Roger aus.« Markby war nicht ganz sicher, wie sie das bewerkstelligen wollte, doch er gehorchte. Er öffnete die Vordertür, ging ins Haus, schloss die Tür bis auf einen Spalt und wartete im Flur. Nach einigen Sekunden und Kampfgeräuschen draußen flog die Tür auf. Muriel katapultierte sich ins Haus und warf Roger die Tür vor der Nase zu. Der Hund reagierte, indem er die Tür attackierte. Markby hörte, wie die Klauen wütend über das kratzten, was vom Lack noch übrig geblieben war.

»Er ist vollkommen harmlos«, erklärte seine Besitzerin atemlos, während sie sich mit dem Rücken gegen die Tür lehnte.

»Er will spielen. Der einzige Grund, aus dem er Dilys Twelvetrees im Wald umgeworfen hat, an dem Tag, an dem sie Meredith angegriffen hat, ist, weil er Dilys erkannt hat und Hallo sagen wollte.«

»Ich bin jedenfalls sehr froh, dass er das getan hat. Er hat uns den Tag gerettet.«

»Sie sind also sicher, dass Dilys Hester ermordet hat?« Muriel starrte Markby fragend an.

»Ich bin davon überzeugt, und wir arbeiten angestrengt daran, die Beweise zusammenzutragen.« Er sah sie neugierig an.

»Meredith hat mir erzählt, dass Sie an dem Tag, an dem Sie Hester in der Kirche gesehen haben, mehr überrascht waren wegen der Identität der Toten als über die Tatsache, dass es überhaupt eine Leiche gegeben hat. Hatten Sie erwartet, dass es jemand anders ist?« Sie schniefte und sagte prompt:

»Norman Stubbings. Aus dem Pub. Entweder er oder eines von diesen dummen Dingern, mit denen er sich herumtreibt. Ich dachte, Evie wäre endlich übergeschnappt und mit einem Messer auf ihn losgegangen. Ich hätte es ihr jedenfalls nicht verdenken können.« Überrascht fragte Markby:

»Sie wussten, dass er seine Freundinnen mit nach oben in den Kirchturm genommen hat?« Muriel besaß den Anstand zu erröten und Markbys Blicken auszuweichen.

»Nicht genau, nein. Na ja, ich hatte den Verdacht. Sein Vater war der Glockenläuter von St. Barnabas, wissen Sie? Das hat ihn wahrscheinlich auf die Idee gebracht.« Markby blinzelte.

»Und Sie haben nichts gesagt?« Mrs. Scott sammelte sich.

»Wem denn? Evie? Hatte sie nicht schon genug Scherereien? Diese Familie – die Twelvetrees’ – Normans Mutter war eine Twelvetrees, wussten Sie das? Sie haben ihre Frauen schon immer schlecht behandelt, alle zusammen.« Sie hob den Blick und sah Markby an.

»Oder Schlimmeres«, fügte sie hinzu. Beide schwiegen, während sie an die Verbrechen des verstorbenen Old Billy Twelvetrees denken mussten. Muriel Scott durchbrach die Stille zuerst.

»Ich weiß nicht, warum wir hier draußen im Flur stehen. Kommen Sie doch herein, setzen wir uns.« Er folgte ihr in das unaufgeräumte Wohnzimmer und setzte sich auf das löchrige Rosshaarsofa. Muriel warf sich in einen Lehnsessel und fragte:

»Möchten Sie vielleicht eine Tasse Tee?«

»Bitte machen Sie sich keine Umstände. Ich kann wirklich nicht lange bleiben. Ich dachte nur, ich müsste vorbeikommen und Bescheid geben, dass wir nicht an dem Haus interessiert sind.« Sie lächelte humorlos.

»Ich dachte mir gleich so etwas. Nach allem, was passiert ist? Lower Stovey ist wahrscheinlich der letzte Ort auf der Welt, an dem Meredith wohnen will, könnte ich mir denken!«

»Sie ist tatsächlich nicht begierig darauf, hierher zu ziehen, wie ich zugeben muss.« Meredith war auch nicht begierig auf das Haus, doch wenn Muriel Scott glaubte, dass es am Dorf lag und nicht an Old Vicarage, dann war ihm das nur recht.

»Wenn Sie es nicht kaufen wollen, dann wird es irgendwann jemand anders kaufen«, bemerkte sie.

»Ich werde vielleicht noch mit dem Preis nach unten gehen, jedenfalls so weit, dass mir genügend bleibt, um mir und Roger irgendwo ein hübsches kleines Haus zu kaufen.«

»Roger würde das Leben auf dem Land vorziehen, denke ich.«

»Keine Sorge, wir ziehen nicht in die Stadt. Er würde es dort hassen, genau wie ich!« Muriel trommelte mit den Fingern auf der Armlehne ihres Sessels.

»Wissen Sie, vor vielen Jahren, als ich in dieses Haus kam, um den alten Reverend Pattinson zu versorgen, da war ich wirklich begeistert! Ich war verwitwet, mittellos, ohne Wohnung und genauso arm wie Dilys, nachdem ihr Ehemann mit dieser Kellnerin durchgebrannt war. Allerdings hatte ich mehr Glück als sie. Als man mir gesagt hat, dass Miss Pattinson, wie sie damals hieß, gefragt hätte, ob ich nicht Lust hätte, als Haushälterin für ihren Vater zu arbeiten, da erschien mir das wie ein Wunder. Ich habe ihr direkt geschrieben und das Angebot angenommen. Ich habe mich mit Miss Pattinson und dem alten Reverend getroffen, und wir kamen von Anfang an fantastisch miteinander zurecht. Es sah aus, als wäre es so vorherbestimmt gewesen, irgendwie, dass ich hierher komme. Er hat überhaupt keine Probleme gemacht, der alte Reverend Pattinson. Ein wenig geistesabwesend und ein Bücherwurm, das ist alles. Aber er hat gegessen, was auch immer ich ihm auf den Tisch gestellt habe, er war immer höflich zu mir und hat meine Instruktionen befolgt. Wenn ich ihm gesagt habe, dass er seine Jacke wechseln soll, dann ist er losgezockelt und hat es getan. Er war so ein netter alter Bursche.«

»Und Sie hatten Verwandte im Dorf. Ein weiterer Grund herzuziehen.« Sie sah ihn mit erhobenen Augenbrauen an.

»Ja, habe ich. Woher wissen Sie das?«

»Ruth Aston hat mir erzählt, dass Martin Jones Ihr Onkel ist. Er hat ihr gesagt, dass Sie eine Anstellung suchen, und ihm hat sie den Vorschlag gemacht, dass Sie herkommen und als Haushälterin arbeiten sollen.«

»Das ist richtig. Aber Kevin war es, der mir den Brief geschrieben hat, weil Onkel Martin nicht ans Briefeschreiben gewöhnt war. Kevin ist mein Cousin, wie Sie sich denken können. Nicht, dass ich oft zur Farm rausgehe. Ich kann Roger nicht mit dorthin nehmen. Er benimmt sich einfach nicht. Es ist wirklich eigenartig. Mein Onkel hat immer gesagt, Old Billy Twelvetrees wäre der beste Farmarbeiter gewesen, den er je gehabt hätte. Reverend Pattinson hat nie ein böses Wort über die Familie Twelvetrees verloren, wahrscheinlich, weil die alte Mrs. Twelvetrees früher hier geputzt hat. Andererseits war der Reverend ein Mann, der die meiste Zeit nicht mitbekam, was sich vor seiner Nase abspielte. Er hatte ein Problem damit, zwischen dem wirklichen Leben und dem, was er sich als Leben wünschte, zu unterscheiden. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Ich verstehe sehr gut«, sagte Markby.

»Es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die so sind.«

»Er hat zu viel Zeit mit seinen Büchern verbracht, das ist der Grund«, schloss Muriel Scott.

»Wissen Sie, ich glaube, wir sind uns vor zweiundzwanzig Jahren schon einmal begegnet«, sagte Markby.

»Als ich zum ersten Mal in dieses Haus kam, um mit Mr. Pattinson zu reden. Eine Frau hat mich in sein Arbeitszimmer geführt, doch zu meiner Schande kann ich mich nicht erinnern, ob Sie das waren.«

»Ich müsste es gewesen sein, aber ich kann mich auch nicht an Sie erinnern. Ich erinnere mich an einen Beamten, der wegen der Vergewaltigungen in Stovey Woods vorbeigekommen ist, aber nicht an sein Gesicht.«

»Eigentlich hätte mein Gedächtnis mich informieren müssen, als Sie Meredith und mir die Tür geöffnet und gesagt haben, Sie wären die Haushälterin. Das sind Sie heute selbstverständlich nicht mehr. Aber damals waren Sie es. Ich hätte mich erinnern müssen.« Schweigen breitete sich aus. Dann sagte Muriel ernst:

»Also war es Old Billy Twelvetrees. Es ergibt Sinn, wenn man genau überlegt. Aber wenn ich daran denke, wie er mit seinem Gehstock über die Straße gehumpelt ist – es fällt schwer, sich an den Gedanken zu gewöhnen.«

»Er war damals nicht alt. Er war fit, stark und sexuell frustriert. Seine Frau war bettlägerig, und eheliche Beziehungen hatten aufgehört zu existieren. Außerdem neigte er zu Gewalt gegenüber seiner Familie. Er sah keinen Grund, warum er sich das, was er wollte, nicht anderswo holen sollte. Er arbeitete in unmittelbarer Nähe zu Stovey Woods. Alles in allem betrachtet erscheint es nur logisch.«

»Er hat all die Jahre mitten unter uns gelebt.« Muriel schüttelte den Kopf.

»Trotz seiner Verbrechen. Ich frage mich, woher er den Mut dazu hatte. Er muss völlig gewissenlos gewesen sein.«

»Ich nehme an, dass es so war. Er war ein niederträchtiges Exemplar von Mensch. Er hatte nicht eine Spur von Angst, seine Tochter, die all die Jahre unter seinem Dach gewohnt hat, könnte etwas erzählen. Er hat sie unterdrückt, und sie hat sich vor ihm geduckt aus Angst, ihr Zuhause zu verlieren. Außerdem – wohin hätte er schon gehen sollen, wenn er gegangen wäre? Lower Stovey war sein Dorf, seine ganze Familie stammt von hier. Er hat sein ganzes Leben hier verbracht. Er hat auf der Farm gearbeitet und besaß keine anderen Fähigkeiten. Er hat in einem Cottage für Farmarbeiter gewohnt. Er hätte all das verloren. Mehr noch, falls er je überlegt hat wegzugehen, muss er erkannt haben, dass diese Tatsache Verdacht erregt hätte. Dass ein Mann, dessen Wurzeln so fest in Lower Stovey verankert sind, plötzlich seine Siebensachen packt und wegzieht, hätte die Leute zum Spekulieren gebracht. Stattdessen hat er kühlen Kopf bewahrt. Es gab keine Verdächtigungen gegen ihn. Er blieb in Lower Stovey. Tatsächlich wurde seine Angst, von hier wegzugehen, mit den Jahren immer größer.« Muriel nickte.

»Am Ende hat er uns alle betrogen, nicht wahr?«

»Uns?«, fragte Markby freundlich. Sie verzog das Gesicht.

»Ich habe ein persönliches Interesse an der Sache. Ich war keines von seinen Opfern, kommen Sie mir nicht auf diese Idee! Aber ich habe noch andere Verwandte hier in der Gegend neben Onkel Martin und Kevin. Sie haben die Ermittlungen gegen den Kartoffelmann geleitet. Sie erinnern sich wahrscheinlich an Mavis Cotter.«

»In der Tat. Sie war das erste seiner Opfer. Oder besser, das erste, von dem wir erfahren haben.«

»Die arme Mavis. Sie war eine entfernte Cousine von mir. In Dörfern wie Lower Stovey sind alle mehr oder weniger miteinander verwandt. Nur mit den Twelvetrees bin ich nicht verwandt, Gott sei Dank! Eine besudelte Blutlinie ist das, wenn Sie mich fragen!« Sie blickte Markby an.

»Sie haben Mavis weggegeben, wussten Sie das? Nach der Geschichte im Wald?«

»Weggegeben?«, fragte Markby verblüfft.

»Ja. Zu einer Institution. Ihre Mutter glaubte, dass sie die Verantwortung nicht mehr tragen konnte, nach dem, was passiert war. Sie sagte, Mavis würde vielleicht wieder durch den Wald streifen, und ihr würde irgendetwas anderes zustoßen. Mavis hatte keinen Verstand. Sie war ein wenig zurückgeblieben. Aber sie war ein nettes Mädchen, freundlich, fügsam und fleißig. Sie hat nie irgendwelchen Ärger gemacht. Sie war eine freundliche Natur. Aber sie konnte nicht auf sich aufpassen, und am Ende haben sie sie weggegeben. Es war falsch, ihr so etwas anzutun, finden Sie nicht?« Muriel musterte Markby aufmerksam.

»Ja«, sagte Markby.

»Es war falsch.«

»Sie war nicht verrückt. Sie war für niemanden eine Gefahr. Sie war nur ein wenig zurückgeblieben, und ihre Mutter kam nicht damit zurecht. Also haben sie sie weggegeben, eingesperrt zusammen mit Fremden, und versorgt von Fremden. Sie wusste nicht einmal, warum man das mit ihr gemacht hat. So war das damals. Es war, als würde man das Opfer auch noch bestrafen.«

»Es tut mir sehr Leid«, sagte Markby.

»Es ist nicht Ihre Schuld«, erwiderte sie.

»Das ist das Leben, nicht wahr? Irgendetwas geht schief, und dann kommen immer mehr Dinge hinzu. Es kann jedem passieren.« Sie wirkte mit einem Mal nachdenklich.

»Es wäre schön gewesen, wenn die Polizei ihn damals erwischt hätte. Aber wenigstens wissen wir jetzt, was passiert ist, und die Leute wissen, dass die arme Mavis sich nicht alles nur ausgedacht hat.«

»Es freut mich, dass Sie es so sehen«, gestand Markby.

»Ich vermute, es ist sogar für mich ein kleiner Trost.« Von draußen ertönte ein klägliches Jaulen.

»Ich muss ihn reinlassen«, sagte Muriel.

»Ich denke, ich muss gehen. Ich muss Meredith an der Kirche abholen, und dann wollen wir Ruth noch einen kurzen Besuch abstatten, bevor wir nach Bamford zurückfahren.« Muriel verzog das Gesicht, nicht aus Zorn, wie sich herausstellte, sondern aus Bestürzung.

»Ruth! Gut, dass Sie mich daran erinnern. Sagen Sie ihr bitte, wenn Sie so freundlich wären, dass ich ein paar Sachen von ihrem Vater gefunden habe. Papiere, Unterlagen. Ich habe ausgemistet. Muss ich ja, jetzt, nachdem das Haus zum Verkauf steht.« Sie deutete in Richtung des Arbeitszimmers.

»Ich hätte alles schon zusammensuchen müssen, gleich nachdem er gestorben war, und es seiner Tochter geben. Aber Ruth hat damals noch nicht in Lower Stovey gewohnt, also ließ ich alles mehr oder weniger da, wo es war. Ruth ist erst später mit ihrem Mann Gerald hierher gezogen. Ein netter Mann. Schade, dass er so früh gestorben ist. Krebs, wissen Sie? Wie dem auch sei, ich habe Ruth damals gesagt, ich hätte noch ein paar Sachen hier, falls sie die haben möchte, und sie meinte, sie würde vorbeikommen und alles durchgehen. Aber das hat sie nie getan, wohl, weil Gerald so krank war.«

»Ich werde es ausrichten. Was für Papiere sind das?« Ein Schniefen war die Antwort.

»Was wir als seine ›Forschungen‹ betrachtet haben. Er war sehr interessiert an den alten Legenden und so weiter. Er war geradezu besessen vom Grünen Mann. Warten Sie.« Muriel erhob sich und verließ den Raum. Nach einem Moment kam sie mit einem alten Aktenordner unter dem Arm zurück, den sie Markby reichte.

»Das ist ein typisches Beispiel. Geben Sie ihn Ruth, würden Sie das tun, damit sie sehen kann, um was es sich handelt. Sagen Sie ihr, ich hätte noch drei Kisten voll davon.« Auf dem Weg nach draußen gab es einen weiteren freundschaftlichen Kampf mit Roger. Markby stieg in den Wagen und legte den Ordner auf den Beifahrersitz. Er streckte die Hand nach dem Zündschlüssel aus, doch dann überkam ihn die Neugier. Er klappte den Ordner auf und las das oberste Blatt. Es war handgeschrieben, in einer kleinen, altmodischen Schrift.

»Gestern hat meine Frau mich überredet, mit ihr in ein Gartencenter zu fahren. Ich war überrascht, dort (unter all den anderen kostspieligen Statuen für den Garten) eine Plastikmaske des Grünen Mannes vorzufinden – oder zumindest wurde behauptet, dass es der Grüne Mann wäre. Eigentlich hätte man sie als Blätterkopf bezeichnen müssen, weil der Gesichtsausdruck viel zu gütig war für den Grünen Mann! Er sah richtig freundlich aus! Wo sind die verschlagenen, gequälten Gesichtszüge? Wo die Augen voll alter Niedertracht und dem Wissen um grauenvolle, unausgesprochene Sünden?« Markby schob das Blatt in den Ordner zurück. Der alte Reverend Pattinson hatte sich täuschen lassen. Nur weil Gesichtszüge freundlich aussahen, bedeutete das noch lange nicht, dass keine grauenvollen Erinnerungen dahinter lauerten. Man denke nur an Billy Twelvetrees, einen schelmischen alten Burschen, den einheimischen Exzentriker, der nach außen hin für niemanden eine Gefahr darstellte und völlig harmlos schien. Doch unausgesprochene Sünden? O ja!

Meredith hatte es Alan überlassen, Muriel Scott zu sagen, dass sie das Haus nicht wollten. Sie wollte nicht noch einmal über die Episode im Wald reden müssen. Sie war Muriel und Roger dankbar, doch die Begebenheit war nichts, woran sie erinnert werden mochte.

Sie öffnete die Tür zur Kirche und betrat den kühlen, halbdunklen Innenraum von St. Barnabas ein letztes Mal. Sie bemerkte sogleich, dass sie nicht alleine war. Ein junger Mann studierte den Gedenkstein von Sir Rufus Fitzroy, ein Tourist, schätzte Meredith. Er drehte sich zu ihr um und lächelte.

»Imposanter alter Knabe, nicht wahr?«

Meredith fühlte sich bewogen, Ruths Tradition fortzusetzen und Fremde zu begrüßen. Sie ging zu ihm und blickte zu Sir Rufus hinauf.

»Er sieht wie ein harter alter Brocken aus, wenn Sie mich fragen«, sagte sie.

»Es waren harte Zeiten. Nur die Stärksten haben überlebt. Nur um am Leben zu bleiben, musste man unglaublich stark sein. Krankheiten, schlechte Hygiene, die Hälfte von allem, was es zu essen gab, bereits verdorben, Operationen ohne Betäubung und ohne Desinfektion …« Er schenkte ihr ein weiteres entschuldigendes Lächeln.

»Ich bin Arzt, wissen Sie?«, sagte er.

»Ich denke oft über diese Dinge nach.«

»Sie sind nicht Guy Morgan, oder?«, fragte Meredith.

»Derjenige, der die Knochen im Wald gefunden hat?« Er blickte sie erstaunt an.

»Doch. Und Sie sind …«

»Meredith Mitchell. Ich war an jenem Tag in Lower Stovey zu Besuch, zusammen mit Alan Markby. Superintendent Markby.«

»Oh, richtig. Ja, er war dabei, als ich mit den anderen Beamten zu der Stelle gefahren bin, wo ich die Knochen gefunden habe. Ich bin froh, dass sie am Ende identifiziert werden konnten.«

»Ich hätte die Gerichtsverhandlung gerne besucht, aber ich musste an jenem Tag arbeiten«, sagte Meredith. Bei der Erwähnung der Verhandlung zur Feststellung der Todesursache runzelte Dr. Morgan die Stirn.

»Die Mutter des Toten war da. Ich wollte zu ihr gehen und mit ihr reden, ihr mein Beileid aussprechen, aber sie hat mich nicht ein einziges Mal angesehen. Sie ist meinen Blicken ganz definitiv ausgewichen, also hab ich es gelassen. Ich schätze, die Tatsache, dass ich die sterblichen Überreste ihres Sohnes gefunden habe, war zu viel für sie. Es hat jede Unterhaltung verhindert.«

»Alan hat mir berichtet, dass Mrs. Hastings sehr … nun ja, nicht gerade glücklich, das ist nicht der richtige Ausdruck – dass sie erleichtert war. Weil man ihren Sohn gefunden hatte. Es war ein großer Trost für sie, und ich bin sicher, auf ihre Weise war sie froh, dass Sie die Knochen entdeckt haben. Ein Kind zu verlieren muss etwas Schreckliches sein, ganz gleich, wie alt es sein mag.«

»Vermutlich haben Sie Recht.« Guy Morgan wandte sich ab und blickte hinauf zu Sir Rufus.

»Meine Mutter hat mich weggegeben, als ich ein Baby war. Ich nehme an, sie hatte ihre Gründe.«

»Sie weggegeben?«

»Ja. Sie hat mich zur Adoption freigegeben. Ich nehme an, ich war unehelich. Es ist ein eigenartiges Gefühl für mich, wenn ich mich hier in dieser Kirche umsehe und all diese Denkmäler von Leuten sehe, die zu einer einzigen Familie gehören … Ich habe keine Blutsverwandten, und ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist. Ich habe meine Adoptiveltern, und sie sind meine richtigen Eltern in jeder Hinsicht, die mich betrifft. Sie haben mich geliebt und gefördert und waren immer verständnisvoll. Keine leiblichen Eltern hätten besser sein können. Sie waren nicht in der Lage, selbst Kinder zu bekommen, und sie sahen mich als ein wunderbares Geschenk an. Ich begriff, selbst als ich noch ganz klein war, dass ich etwas ganz Besonderes war für sie.«

»Haben Sie nie versucht, Ihre leibliche Mutter ausfindig zu machen?«, fragte Meredith. Er schüttelte den Kopf.

»Nein. Was für einen Sinn hätte das? Was sollten wir uns sagen? Sie hat ihr Leben ohne mich gelebt, und ich lebe mein Leben ohne sie. Schlafende Hunde sollte man nicht wecken. Oder, wie eine ältere Patientin einmal zu mir gesagt hat: ›Es ist besser, wenn man trübes Wasser nicht aufwirbelt. Manchmal lauern bösartige Dinge im Schlamm am Grund eines Teichs.‹« Er wandte sich zum Gehen.

»Nun ja, ich muss weiter. Ich wollte nur herkommen, um mir das Dorf anzusehen, nachdem es in allen Nachrichten war wegen der Knochen und so. Grüßen Sie den Superintendent von mir. Nett, Sie kennen gelernt zu haben.« Er schüttelte ihr flüchtig die Hand.

»Leben Sie wohl.« Sie blickte ihm hinterher, während er nach draußen ging, die stämmige Gestalt eine Silhouette vor der Sonne in der offenen Tür, bevor sie hinter ihm wieder zufiel und Meredith alleine war mit Sir Rufus, Hubert und Agnes und wer weiß welchen Geistern, die noch in dieser alten Kirche wohnten.

»Nun denn, Mr. Pearce«, sagte der Zahnarzt.

»Wir haben Sie seit einer ganzen Weile nicht mehr gesehen.«

»Ah, nein«, sagte Pearce.

»Ich hatte viel zu tun.«

»Ich hab in der Zeitung davon gelesen. Der Mord in Lower Stovey. Schlimme Geschichte. Und die Sache mit den Knochen, die man im Wald gefunden hat. Und alles auf Ihren Schultern, richtig? Machen die Zähne Probleme?« Für einen Moment verstand Pearce die Frage nicht richtig, und fast hätte er geantwortet, dass die Zähne der entscheidende Hinweis für die Identifikation ihres Besitzers gewesen waren. Doch dann fiel ihm rechtzeitig ein, dass er wegen seiner eigenen Zähne hier war, oder besser, wegen eines ganz bestimmten Zahns.

»Ich hab ein paar Mal Schmerzen gehabt«, gestand er.

»Dann wollen wir mal sehen. Bitte machen Sie den Mund weit auf, so weit Sie können … Ah, ja …«

Damit endet Mitchell und Markbys vierzehnter Fall. Ihren letzten Fall müssen die beiden in dem Roman

»Und sei getreu bis in den Tod« bestehen, der im Oktober 2006 erscheint.